Yascha beantwortet eure Fragen #1
Letzte Woche haben mir Hunderte von Leserinnen und Lesern auf meinem englischen Substack geholfen, besser zu verstehen, wie die neue Weltordnung aussehen könnte. Ich bin unglaublich stolz auf die Community, die sich rund um The Good Fight, Persuasion und meinen englischen Substack gebildet hat – und freue mich sehr, dass sich nun langsam auch unter deutschsprachigen Abonnenten eine ähnliche Dynamik entwickelt.
Umso mehr hat es mich gefreut, Abonnenten zu einer Live-Session einzuladen und ihre Fragen direkt zu beantworten. Dabei hatten wir eine faszinierende Diskussion – über eine Außenpolitik für die Mittelschicht, den Zustand der Meinungsfreiheit in Europa, die Erosion der Rechtsstaatlichkeit in den USA, ob eine neue Partei in Amerika den Durchbruch schaffen kann und vieles mehr.
Das Transkript wurde gekürzt und zur besseren Verständlichkeit leicht bearbeitet.
Susan: Ich habe eine Frage zu deinem Interview mit Jake Sullivan. Ich hatte noch nie zuvor von einer Außenpolitik für die Mittelschicht in dieser Form gehört. Meine Frage ist: Glaubst du, dass während des Krieges, der nun seit drei Jahren andauert, darüber gesprochen wurde, wie er der Mittelschicht zugutekommt – abgesehen von der Aussage, dass er der Demokratie dient?
Yascha: Die Idee von Jake Sullivan greift eine Sorge auf, die meiner Meinung nach sehr berechtigt ist. Nämlich: Wie gewinnen wir eigentlich die Unterstützung der amerikanischen Bevölkerung für Amerikas Rolle in der Welt? Seine Antwort darauf ist, dass wir viel konkreter aufzeigen müssen, wie die Außenpolitik der USA dazu beiträgt, Amerikas Wohlstand zu sichern. Und das könnte auch bedeuten, bestimmte politische Maßnahmen so zu verändern, dass sie diese Aufgabe tatsächlich besser erfüllen als in der Vergangenheit – denn tatsächlich hat das, was Amerika in der Welt getan hat, nicht immer der amerikanischen Mittelschicht gedient.
Nun konnte ich nie ganz einschätzen, inwieweit dieses Ziel tatsächlich die oberste Priorität der Regierung war – oder ob es nur eine von vielen Überlegungen war, vielleicht sogar eher eine Art, über Dinge zu sprechen, die ohnehin geplant waren. Eine andere Frage, die ich mir gestellt habe, ist, ob es überhaupt glaubhaft ist, dass diese Strategie das Wählerverhalten in irgendeiner Weise verändert. Werden die Menschen wirklich merken, dass wir ihnen durch diese außenpolitischen Entscheidungen mehr Geld in die Tasche gesteckt haben?
Mein Eindruck ist, dass diese Art, über Außenpolitik nachzudenken, wahrscheinlich einige Maßnahmen der Biden-Regierung gestützt hat – vor allem dort, wo sie mit den langjährigen Überzeugungen des Präsidenten übereinstimmte. Joe Biden war beispielsweise immer skeptisch gegenüber dem langjährigen US-Engagement in Afghanistan. Da fiel es dann leicht zu sagen: Warum sollten wir eigentlich in Afghanistan bleiben? Das dient den Amerikanern nicht direkt. Ist das wirklich unsere Priorität, wenn es uns darum geht, eine wohlhabende amerikanische Mittelschicht aufzubauen? Aber in anderen Bereichen – etwa beim substanziellen Engagement der USA in der Ukraine – scheint mir, dass letztlich Werte die Außenpolitik bestimmt haben, die nicht so einfach in dieses wirtschaftliche Raster passen. Und im Podcast hatte ich den Eindruck, dass Jake Sullivan genau das auch so angedeutet hat.
Tim: Hat dich die zunehmende Einschränkung der Meinungsfreiheit in Europa in den letzten acht Jahren überrascht? Siehst du das als einen anhaltenden Trend?
Yascha: Ja, das hat mich überrascht. Noch allgemeiner gesagt, hat es mich erstaunt, wie sehr sich die Linke in den letzten Jahren von der Vorstellung entfernt hat, dass Meinungsfreiheit ein progressiver Wert ist. Als ich jung war, war für mich völlig klar, dass die Meinungsfreiheit ein Kernanliegen der Linken ist – gerade in den USA mit ihrer Tradition, die bis zur Free-Speech-Bewegung in Berkeley zurückreicht.
In den letzten zehn Jahren haben wir zugelassen, dass die Meinungsfreiheit zunehmend als ein Anliegen der politischen Rechten wahrgenommen wird – und in Europa sogar als ein Thema von Extremisten (besonders, aber nicht nur von rechts). Ich habe kürzlich mit Jacob Mchangama darüber gesprochen, einem der großen Verteidiger der Meinungsfreiheit. Er ist in Dänemark geboren und aufgewachsen und lebt inzwischen in den USA. Er erzählte mir von einer Veranstaltung der Europäischen Kommission in Brüssel. Und dort wurde ganz selbstverständlich angenommen, dass jemand, der sich entschieden für Meinungsfreiheit einsetzt, irgendein rechter Radikaler sein müsse – einfach, weil eine starke Position zu diesem Thema in Europa inzwischen so gelesen wird.
Europa hat schon lange eine Tradition, die Meinungsfreiheit in bestimmten Bereichen einzuschränken. Und ich war dem gegenüber immer kritisch. In Deutschland gibt es Strafen für die Leugnung des Holocausts oder die Verwendung von Nazi-Symbolen. Ähnliche Gesetze wurden in anderen europäischen Ländern eingeführt. In Frankreich gibt es seit Jahren ein Gesetz gegen jede Form der Genozid-Leugnung, das zum Beispiel auch den Völkermord an den Armeniern umfasst. Früher betrafen solche Einschränkungen aber nur eine begrenzte Zahl historischer Themen. Heute ist es fast eine Art Identitätsmerkmal europäischer Politiker – und besonders der Europäischen Union selbst –, sich gegen die vermeintliche „Tyrannei der Meinungsfreiheit“ zu stellen.
Das wurde mir vor ein paar Wochen auf der Harvard European Conference besonders deutlich. Dort wurde viel über den „Brussels Effect“ gesprochen – also die Idee, dass die EU durch ihre regulatorische Macht das Verhalten von Regierungen und Unternehmen, selbst in den USA und Asien, maßgeblich beeinflussen kann. Und ein zentraler Punkt dieser Selbstwahrnehmung der EU ist heute, dass sie besonders strenge Einschränkungen der Meinungsfreiheit aufrechterhalten will. Ich halte das für einen schweren Fehler.
Solche Einschränkungen werden extreme politische Ideen nicht aus unseren Gesellschaften fernhalten. Wir sehen ja, dass die politischen Extreme in Europa trotz – oder vielleicht gerade wegen – dieser Einschränkungen wachsen. Denn sie ermöglichen es radikalen Akteuren, sich als die großen Rebellen zu inszenieren, als Märtyrer des politischen Establishments, die angeblich für die Freiheit kämpfen. Und natürlich spielen diese Gesetze autoritären Regierungen in die Hände, sobald sie an die Macht kommen. Sie können jede Kritik zurückweisen, indem sie sich auf die Argumente der angeblich moderaten Befürworter solcher Einschränkungen berufen. Dass Europa restriktiver mit der Meinungsfreiheit umgeht als die USA, überrascht mich nicht. Aber wie weit das inzwischen geht – und mit wie wenig kritischer Reflexion das geschieht –, das überrascht mich schon.
Thomas: Hast du eine Art Lackmustest dafür, wann die Rechtsstaatlichkeit in den USA zusammengebrochen ist?
Yascha: Ich glaube nicht, dass Demokratie einfach ein binäres Konzept ist – entweder sie existiert oder sie existiert nicht. Genau diesen Fehler haben wir nach 2016 oft gemacht. In vielen Ländern sieht man stattdessen eine schrittweise Erosion des demokratischen Systems. Es gibt weiterhin bedeutende Wahlen, deren Ausgang nicht feststeht – aber sie sind nicht mehr so frei und fair wie früher. Die Spielregeln sind weniger ausgewogen. Ähnlich verhält es sich mit der Rechtsstaatlichkeit. Eine perfekte Rechtsstaatlichkeit hat es wohl nirgendwo auf der Welt je gegeben. Es gab nie einen Ort, an dem sich wirklich jeder exakt an die Regeln gehalten hat und kein Beamter je seine Macht missbraucht hat. Das war auch in den USA nie der Fall.
Am anderen Ende des Spektrums steht ein System, in dem alles von den Launen eines Diktators abhängt, der über hochgradig zentralisierte Macht verfügt. Dort sind geschriebene Gesetze letztlich nur Fassade. Aber selbst in autoritären Regimen gibt es oft eine gewisse Rechtsstaatlichkeit in unpolitischen Bereichen – etwa für wirtschaftliche Angelegenheiten –, weil sie für das Funktionieren des Alltags notwendig ist. Sobald jedoch jemand mit politischer Macht ein persönliches Interesse an einer bestimmten Gerichtsentscheidung hat, können all diese Regeln plötzlich bedeutungslos werden. Aber solange es in einem System noch echte Streitfälle zwischen zwei privaten Bürgern gibt, die keine politischen Verbindungen haben und vor Gericht fair behandelt werden, existiert zumindest ein gewisses Maß an Rechtsstaatlichkeit – selbst in einem stark fehlerhaften System.
Yascha: Also, wo auf diesem Spektrum stehen wir, und wann müssen wir anfangen, uns Sorgen zu machen? Ich würde sagen, in den USA wird es wirklich besorgniserregend, wenn eine Regierung beginnt, klare Gerichtsurteile zu missachten. Wenn Trump beispielsweise eine Exekutivanordnung erlässt oder das Militär anweist, etwas zu tun, und ein Bundesgericht oder der Supreme Court eingreift und sagt: „Das dürfen Sie nicht, das verstößt fundamental gegen Ihre Befugnisse als Präsident“, und Trump dann – wie es Andrew Jackson nachgesagt wird, auch wenn er es wohl nie wörtlich gesagt hat – antwortet: „Der Supreme Court hat sein Urteil gefällt, jetzt soll er es durchsetzen“ – dann hätten wir einen echten Rubikon überschritten.
Ich glaube, es gibt eine gewisse Versuchung innerhalb der Regierung, in diese Richtung zu gehen – zumindest wird mit der Idee gespielt. Ob sie wirklich einen so drastischen Schritt wagen, ist noch unklar. Aber für mich wäre das ein massiver Bruch mit der Rechtsstaatlichkeit.
Ein weiteres Problem beim Supreme Court und der richterlichen Überprüfung besteht natürlich darin, dass seine Legitimität in den letzten Jahrzehnten zunehmend infrage gestellt wurde. In den letzten 75 Jahren wurden in den USA viele politische Entscheidungen von Richtern getroffen. Je mehr es den Anschein hat, dass Richter Politik betreiben und direkt in öffentliche Entscheidungsprozesse eingreifen, desto schwieriger wird es für sie, den allgemeinen Respekt und die Unterstützung der Gesellschaft zu bewahren – gerade dann, wenn ihr Eingreifen wirklich entscheidend ist. Doch genau deshalb brauchen wir ein unabhängiges Verfassungsgericht: Denn sein eigentlicher Zweck ist es, in den Momenten einzugreifen, in denen die Exekutive ihre legitimen Befugnisse überschreitet und das Risiko einer Form von Tyrannei entsteht. Das bereitet mir große Sorgen.
Joshua: In den USA gibt es einen starken christlichen Nationalismus innerhalb der MAGA-Bewegung. Spielt christlicher Nationalismus auch eine große Rolle beim Aufstieg der Rechten in Europa?
Yascha: Europa ist insgesamt viel säkularer als die USA, und in den meisten europäischen Ländern gibt es keine stark organisierte christliche Rechte – mit einigen Ausnahmen wie Polen und Italien. In Deutschland und Frankreich zum Beispiel ist der Anteil der Bevölkerung, der tief religiös ist, regelmäßig in die Kirche geht und das als politisches Identitätsmerkmal begreift, verschwindend gering.
Ich denke aber, dass man auch hinterfragen muss, inwieweit christlicher Nationalismus tatsächlich die treibende Kraft innerhalb der MAGA-Bewegung ist. Ein interessantes Beispiel war Trumps Wiederwahlkampagne: Er hat erkannt, dass einige der strikten Abtreibungsgesetze, die in Alabama und anderen Bundesstaaten verabschiedet wurden, nicht besonders populär sind. Und er hat sich in einer Weise positioniert, die extremer war als jede Strategie der Demokraten. Er versprach – ob er sich daran halten würde, bleibt abzuwarten –, dass er kein föderales Abtreibungsverbot unterzeichnen oder in irgendeiner Weise auf Bundesebene Abtreibungsrechte einschränken würde. Und rein zufällig oder nicht veröffentlichte seine Frau, Melania Trump, ein Buch, in dem sie erklärte, dass sie pro-choice sei.
Die christliche Rechte ist seit Jahrzehnten ein Teil der republikanischen Koalition und gehört auch zu Trumps Unterstützern. Sie sind zufrieden damit, dass die von ihm geprägte konservative Mehrheit im Supreme Court Roe v. Wade gekippt hat, weshalb sie loyal zu ihm bleiben. Aber gleichzeitig hatte ich den Eindruck, dass viele aus dieser Bewegung sich durch Trumps Aussagen im Wahlkampf verraten fühlten.
Yascha: Interessante Frage. Das betrifft das, was man in Deutschland eine Brandmauer nennt oder auf Französisch den cordon sanitaire – die Praxis vieler gemäßigter Parteien in Europa, eine Zusammenarbeit mit extremen Parteien kategorisch auszuschließen. Die Beweise für den Erfolg dieser Strategie sind gemischt. In einigen Fällen haben gemäßigte Parteien mit der extremen Rechten koaliert – entweder offiziell oder in Form von informellen Absprachen – und das hat dazu geführt, dass die rechten Parteien an Popularität und Legitimität gewannen und schließlich selbst an die Regierung kamen. In anderen Fällen hat eine solche Kooperation dazu beigetragen, dass diese Parteien sich gemäßigt haben oder schlicht unpopulärer wurden, weil sie sich als unfähig erwiesen, ihre Versprechen umzusetzen.
In Deutschland ist die Lage jedoch komplizierter – sowohl wegen der Geschichte des Landes als auch wegen der besonderen Entwicklung der AfD im Vergleich zu anderen europäischen Rechtsaußenparteien. Wenn man sich Marine Le Pens Rassemblement National ansieht, so begann es unter ihrem Vater Jean-Marie Le Pen als eine offen rechtsextreme Partei mit Sympathien für das Vichy-Regime und zahlreichen Nazi-Anhängern. Marine Le Pen hat die Partei jedoch in Richtung der politischen Mitte gesteuert. Sie hat ihren eigenen Vater ausgeschlossen und viele Neonazi-Sympathisanten aus der Partei gedrängt, um sie salonfähiger zu machen.
Die AfD hingegen hat die genau entgegengesetzte Entwicklung durchlaufen. Sie begann als eine eher konservative, aber durchaus moderate Partei, die von Wirtschaftsprofessoren gegründet wurde, die den Euro ablehnten. Doch im Laufe der Jahre wurde jeder gemäßigte Parteiführer von radikaleren Kräften gestürzt. Immer wenn eine Führungspersönlichkeit versuchte, sich von den extremen Elementen in der Partei zu distanzieren, wurde sie durch eine noch radikalere ersetzt. Deshalb konnte sich jemand wie Björn Höcke – der in Deutschland, wo Meinungsäußerungen stark reguliert sind, gerichtlich als „Faschist“ bezeichnet werden darf – zu einer der mächtigsten Figuren in der Partei entwickeln.
Unter diesen Umständen hat Friedrich Merz also völlig recht, wenn er sich als inhaltliche politische Entscheidung gegen eine Zusammenarbeit mit der AfD ausspricht. Außerdem würde seine eigene Partei wohl zerbrechen, wenn er es versuchen würde. Vielleicht ein Drittel seiner eigenen Abgeordneten würden sich abspalten oder die Partei wechseln, weil sie niemals eine Koalition mit der AfD mittragen würden. Daher ist eine Koalition mit der AfD aus rein pragmatischer Sicht derzeit keine realistische Option – Merz würde sich damit schlicht selbst um die Kanzlerschaft bringen.
Allerdings gibt es einen grundlegenden Grund, warum die AfD und andere rechtspopulistische Parteien in Europa derzeit so stark sind: die massive Verschiebung der öffentlichen Meinung zur Migration. 2015 war die Mehrheit der Wähler (zumindest kurzfristig) für eine relativ offene Asylpolitik. Doch inzwischen gibt es echte Herausforderungen bei der Integration der Menschen, die damals gekommen sind. In den letzten Monaten hat es eine Reihe von Terroranschlägen gegeben, in vielen Fällen verübt von abgelehnten Asylbewerbern. Zudem gibt es allgemein zunehmende Probleme mit der öffentlichen Ordnung und steigender Kriminalität.
Die Stimmung in der Bevölkerung hat sich deshalb stark verändert. Ich fand David Frums Argument dazu immer sehr überzeugend: „Wenn Liberale die Grenzen nicht kontrollieren, dann werden es die Faschisten tun.“ Oder, etwas moderater ausgedrückt: „Wenn die Mitte die Grenzen nicht kontrolliert, dann übernehmen das die Extremisten.“ Das ist etwas, das Friedrich Merz und die SPD unbedingt verstehen müssen. Entweder sie bekommen die Kontrolle über die eigenen Grenzen und stellen die öffentliche Ordnung wieder her – oder es könnte bei der nächsten Wahl schlicht keinen Weg mehr geben, eine Koalition mit der AfD zu vermeiden. Und das wäre eine schlechte Entwicklung für Deutschland und Europa.
Robin: Glaubst du, dass die Demokratische Partei in den USA eine gemäßigtere Haltung zu Identitätspolitik und kulturellen Themen einnehmen wird? Nach der Wahl schien die Analyse der Partei zu sein: Die Wirtschaft lief nicht gut, aber an unserer Haltung zu Trans-Themen oder zur Kolonialismus-Kritik müssen wir nichts ändern. Doch viele Leute, die die Demokraten verlassen haben, taten das wegen dieser Themen, nicht wegen der Wirtschaft oder der Einwanderung. Bleibt die Partei also einfach auf ihrem Kurs und bleibt damit lange in der Opposition? Oder siehst du Hoffnung auf Veränderung?
Yascha: Es gibt einige Anzeichen für Hoffnung. Direkt nach der Wahl im November gab es eine Debatte darüber, ob die Demokraten ihre Positionen zu Identitätspolitik überdenken sollten. Einige Stimmen – wie Seth Moulton, ein moderater Demokrat aus Massachusetts – äußerten Bedenken. Er stellte beispielsweise infrage, ob es wirklich klug ist, dass man als Demokrat in „guter Parteistellung“ nur dann gilt, wenn man sich dafür ausspricht, dass trans Frauen, die die männliche Pubertät durchlaufen haben, in Frauen-Wettkampfsportarten antreten dürfen. Doch kritische Stimmen wurden schnell abgestraft. Und als dann die neue Trump-Regierung begann, entschied sich die Partei dafür, an ihrer bisherigen Linie festzuhalten. Der neu gewählte Vorsitzende des Democratic National Committee, Ken Martin, sagte dazu sinngemäß: „Wir haben die richtige Botschaft – wir müssen sie nur weiter wiederholen und uns gegen Trump stellen.“
Es gibt strukturelle Gründe, warum es für die Demokraten so schwer ist, sich von diesen Themen zu lösen. Die drei einflussreichsten Interessengruppen innerhalb der Partei sind tief in diesem Denken verankert. Zum einen sind da die Milliardärs-Spender. Demokraten haben im Wahlkampf 2024 mehr Geld gesammelt als Trump, und Studien zeigen, dass die demokratische Spenderklasse wirtschaftlich eher gemäßigt ist, aber sozial und kulturell deutlich progressiver als der Durchschnittswähler der Partei. Dann gibt es die jungen Parteifunktionäre – die meisten Mitarbeiter des DNC, der Kongressbüros und der Wahlkampfteams kommen direkt aus dem Campus-Aktivismus und sind tief von diesen Ideen geprägt. Und schließlich gibt es die Aktivistengruppen, die oft von denselben Milliardären finanziert und von denselben Aktivisten geleitet werden. Diese Organisationen beanspruchen, für Trans-Personen, Latinos oder Afroamerikaner zu sprechen, selbst wenn ihre Ansichten oft nicht die Mehrheitsmeinung innerhalb dieser Gruppen widerspiegeln.
Damit die Demokratische Partei wirklich einen Kurswechsel vollzieht, bräuchte sie eine mutige und charismatische Präsidentschaftskandidatin oder einen Kandidaten im Jahr 2028, der bereit ist, sich gegen diese Strukturen zu stellen. Bis dahin wird die Partei wohl auf ihrem aktuellen Kurs bleiben – weil es einfach das einzige Narrativ ist, das sie hat.
Yascha: Lass mich versuchen, darauf zu antworten, indem ich kurz über die historische Entwicklung dieses Themas nachdenke. Es hat immer eine liberale Linke und eine illiberale Linke gegeben – man denke nur an die Sowjetunion oder das maoistische China. Innerhalb des Westens führte das zu einem großen Konflikt zwischen den liberalen und den autoritären Strömungen innerhalb der Linken. Ein gutes Beispiel ist das Magazin Dissent, das von „demokratischen Sozialisten“ gegründet wurde – ein Label, das bewusst gewählt wurde, um sich von anderen Teilen der Linken abzugrenzen, die Stalin und die Sowjetunion verteidigten oder es für ihre Aufgabe hielten, die Politik Moskaus zu rechtfertigen. Sich als „demokratischer Sozialist“ zu bezeichnen, war damals eine klare Kampfansage an einen großen Teil der Linken, weil es bedeutete, bereit zu sein, autoritäre Strömungen innerhalb der eigenen Bewegung offen zu kritisieren und sich von ihnen zu distanzieren.
Ich denke, dass der Zusammenbruch der Sowjetunion in gewisser Weise auch diese innerlinken Unterscheidungen zum Einsturz gebracht hat. Zunächst gab es eine Phase der Orientierungslosigkeit – eine Art moderates politisches Moment, in dem fast alle, die links waren, gleichzeitig auch Liberale waren. Ohne eine Kommunistische Partei der Sowjetunion, die verteidigt werden musste, wurde ein großer Teil der Linken automatisch liberal. Aber genau diese Auflösung der alten Frontlinien hat es auch erleichtert, dass illiberale Strömungen innerhalb der Linken wieder die Oberhand gewinnen konnten – denn die alten „Abwehrkräfte“ gegen diese Tendenzen schwanden.
Interessanterweise geschah das nicht durch eine Rückkehr zur klassischen antikapitalistischen Programmatik, sondern durch eine Ablehnung des Universalismus und der Idee echter Gleichheit aus der Perspektive einer identitätsfixierten Linken. Als sich diese „Identitätssynthese“ – so nenne ich dieses Phänomen – zuerst auf Universitätscampus, dann in Aktivistenkreisen und schließlich im politischen Mainstream verbreitete, hatten wir bereits verlernt, diese feinen Unterschiede innerhalb der Linken klar zu benennen.
Das offensichtlichste Beispiel dafür ist für mich die Tatsache, dass viele, die sich heute als „demokratische Sozialisten“ bezeichnen, gar nicht mehr wissen, dass das ursprünglich eine Abgrenzung innerhalb der Linken war – eine Bezeichnung, die bewusst bestimmte Strömungen ausschloss. Stattdessen glauben viele heute, dass es eine Art logische Notwendigkeit sei: Ein wahrer Demokrat muss Sozialist sein, und weil ich Sozialist bin, bin ich automatisch Demokrat. Für sie ist das eine positive Tautologie. Aber natürlich sind diese beiden Begriffe nicht identisch.
Wenn ich über meine eigene politische Position nachdenke, dann komme ich von der Linken und stehe in vielen wichtigen Fragen weiterhin auf der linken Seite. Aber ich glaube, dass es hier zwei Achsen gibt, die besonders relevant sind: die Achse zwischen liberal und autoritär und die Achse zwischen links und rechts. Ich verorte mich klar auf der liberalen Linken. Ich bin bereit, mit der liberalen Rechten gemeinsame Sache zu machen. Aber ich bin nicht bereit, mich mit der autoritären Rechten oder der autoritären Linken zu verbünden.
Das waren großartige Fragen. Ich genieße diese Diskussion wirklich sehr.
Yascha: Das ist eine wirklich interessante Frage. Ich möchte mit zwei Punkten zum Supreme Court beginnen, die oft vermischt werden. Erstens: Der Supreme Court hat heute eine klare konservative Mehrheit, und diese Mehrheit ist bereit, in wichtigen Bereichen des amerikanischen Rechts Revisionen vorzunehmen – oft entlang der ideologischen Linien, die man von Organisationen wie der Federalist Society erwarten würde. Das haben wir beispielsweise beim Abtreibungsrecht oder bei der positiven Diskriminierung (affirmative action) gesehen, und es ist gut möglich, dass auch in anderen Bereichen frühere progressive Mehrheiten im Gericht durch konservative Urteile ersetzt werden.
Das bedeutet jedoch nicht, dass der Supreme Court bislang zum Handlanger einer Diktatur geworden ist oder den Rechtsstaat nicht mehr schützt. Das beste Beispiel dafür war die Wahl 2020, als zahlreiche konservative Bezirks- und Berufungsrichter, die von Donald Trump ernannt worden waren, sowie letztlich auch der Supreme Court selbst sich weigerten, Trumps Versuchen nachzugeben, die Gerichte für seine Zwecke einzuspannen. Trumps Wahlkampagne zog mit einer Vielzahl von Klagen vor Gericht in der Hoffnung, durch die Justiz an der Macht bleiben zu können – doch diese wurden von sämtlichen Instanzen abgelehnt. Das war ein entscheidender demokratischer Test, den die Gerichte bestanden haben. Nun wird sich in den kommenden Jahren zeigen, ob der Supreme Court weiterhin konsequent für die Verfassung eintritt.
Wann hören Gerichte auf, den Rechtsstaat aufrechtzuerhalten? Ein Beispiel wäre, wenn eine Regierung die Justiz personell so stark umgestaltet, dass sie faktisch nur noch der Exekutive dient. Genau das ist in Polen passiert, wo ältere Richter per Gesetz gezwungen wurden, in den Ruhestand zu gehen, um Platz für politische Loyalisten zu machen. In Ungarn hat das Verfassungsgericht mit zweierlei Maß gemessen: Es verhängte hohe Geldstrafen gegen die Opposition für politische Praktiken, die bei der Regierungspartei als völlig akzeptabel galten. In noch extremeren Fällen gibt es Regime, in denen regierungsnahe Schlägertrupps oppositionelle Demonstranten oder Kandidaten angreifen, während die Gerichte solche Vorfälle ignorieren und keine Konsequenzen ziehen. Wenn Gerichte anfangen, die Fairness des politischen Systems in dieser Weise zu untergraben, dann ist der Punkt erreicht, an dem sie den Rechtsstaat nicht mehr aufrechterhalten. Glücklicherweise sind wir in den USA noch nicht an diesem Punkt.
Tom: Die Mehrheit der Wähler ist moderat, und 43 % identifizieren sich als unabhängig. Ist das nicht eigentlich der perfekte Moment für eine dritte Partei, die sich gezielt an moderate Wähler richtet? Ich weiß, dass es einige Hindernisse gibt, aber wie stehen die Chancen für den Durchbruch einer solchen Partei?
Yascha: Es gibt eine tiefe Unzufriedenheit mit den beiden großen Parteien. Tatsächlich können sich beide Parteien leisten, die Mehrheit der Amerikaner nicht wirklich anzusprechen – einfach weil die andere Partei ebenfalls dabei versagt, attraktiv zu sein. In ihrer jetzigen Form sind die Demokraten und Republikaner nur deswegen wettbewerbsfähig, weil ihr jeweiliger Gegner so große Schwächen hat. Wenn eine Partei es tatsächlich schaffen würde, die politische Mitte zu erobern, dann würde das die andere Partei zwingen, sich wieder ernsthaft um Wählerstimmen zu bemühen. Das wäre eigentlich eine gesunde Dynamik.
Der Hauptgrund, warum das nicht passiert, ist das Vorwahlsystem. Ich bin für eine echte Demokratie, in der möglichst viele Menschen mitentscheiden, sehe aber auch den Wert von Institutionen, in denen erfahrene Akteure langfristige Entscheidungen treffen. Das amerikanische Vorwahlsystem ist allerdings die schlechteste Kombination aus beiden Ansätzen – oder vielleicht eher: Es ist keines von beiden. Denn in der Realität bestimmen nur die 5 bis 10 % der Bevölkerung, die am stärksten politisiert, ideologisch motiviert und obsessiv mit Politik befasst sind, welche Kandidaten zur Wahl stehen. Der Großteil der Wähler muss dann zwischen diesen extremen Optionen wählen.
Das schafft eigentlich Raum für eine dritte Partei. Und wenn man Umfragen anschaut, sagen viele Amerikaner, dass sie eine Alternative zu den Demokraten und Republikanern wollen. Das Problem ist allerdings, dass jeder Wähler bei einer dritten Partei an eine ganz bestimmte Version davon denkt – nämlich eine, die zufällig genau seinen oder ihren politischen Ansichten entspricht. Aber „unabhängige Wähler“ sind extrem heterogen. Manche von ihnen würden jemanden wie Michael Bloomberg unterstützen, weil sie wirtschaftlich eher konservativ, aber gesellschaftlich liberal sind. Andere wünschen sich eine Partei, die wirtschaftlich stark umverteilend agiert, aber gesellschaftlich konservativ ist. Beide fühlen sich im aktuellen Parteiensystem nicht repräsentiert – aber sie würden niemals denselben unabhängigen Kandidaten wählen. Diese extreme Heterogenität ist einer der Gründe, warum eine dritte Partei so schwer zu etablieren ist, zusätzlich zum Mehrheitswahlrecht, das kleinere Parteien massiv benachteiligt.
Aber natürlich kann es immer historische Ausnahmen geben. Vor Emmanuel Macrons Aufstieg hätte sich in Frankreich kaum jemand vorstellen können, dass eine dritte Kraft das Duopol von Links und Rechts durchbrechen könnte. In der amerikanischen Geschichte gab es ebenfalls Momente, in denen eine neue Partei so populär wurde, dass sie das bestehende System umkrempelte und zu einer massiven politischen Neuausrichtung führte. Es ist unwahrscheinlich. Es gibt enorme strukturelle Hürden. Aber diejenigen, die überzeugt sind, dass es niemals passieren kann, könnten sich dennoch irren.
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Dieses Transkript wurde mit Hilfe von KI übersetzt und von Niya Krasteva redigiert.