Wolfgang Münchau über Deutschlands Niedergang
Wolfgang Münchau ist Direktor von Eurointelligence und Journalist mit Schwerpunkt auf der Europäischen Union und der europäischen Wirtschaft. Sein jüngstes Buch trägt den Titel Kaput: The End of the German Miracle. Derzeit gibt es noch keine deutsche Übersetzung.
In diesem Gespräch diskutieren Yascha Mounk und Wolfgang Münchau, warum die deutsche Automobilindustrie – und die Wirtschaft insgesamt – an Wettbewerbsfähigkeit verliert und welche politischen Zukunftsperspektiven Deutschland angesichts der bevorstehenden Wahlen hat.
Hinweis: Diese Folge wurde im Januar 2025 aufgezeichnet.
Das Transkript wurde gekürzt und zur besseren Verständlichkeit leicht bearbeitet.
Yascha Mounk: Ich bin seit Langem ein Fan deiner Arbeit und deiner Texte, aber der Anlass für unser Gespräch heute ist dein neues Buch mit dem wunderbaren deutschen Titel: Kaput. Du argumentierst darin, dass Deutschlands wirtschaftliches und politisches Modell sich an einem beispiellosen Wendepunkt in einer beispiellosen Krise befindet. Warum steckt Deutschland in einer so schweren Krise?
Wolfgang Münchau: Deutschland basierte jahrzehntelang auf einem Wirtschaftsmodell – eines, das sowohl von der linken als auch von der rechten politischen Seite mitgetragen wurde. Es beruhte darauf, enorme Exportüberschüsse mit dem Rest der Welt zu erzielen. Dieses Modell hat nicht nur die deutsche Außenpolitik geprägt, sondern auch die Beziehungen zu Russland und China. Es war ebenso ausschlaggebend für Deutschlands Energiepolitik und die Abhängigkeit von russischem Gas – weshalb Deutschland sich von der Kernenergie verabschiedete, da es sich auf diese Energiepartnerschaft mit Putin verlassen konnte. Im Grunde ist dieses Modell seit dem Zweiten Weltkrieg in verschiedenen Varianten im Einsatz gewesen. Und wenn man sich die aktuelle Debatte ansieht, hinterfragt es niemand grundsätzlich. Die Diskussion dreht sich nur darum, wer es besser verwalten kann.
Mir scheint jedoch, dass dieses Modell, das stark auf den Technologien der 1980er und 1990er Jahre basiert, in den 2020ern nicht mehr funktioniert. Für mich ist das Auto das Symbol Deutschlands, denn es ist die wichtigste Industrie des Landes. Vor zwanzig Jahren, als Deutschland eine wirtschaftliche Krise hatte, löste man das Problem mit Maßnahmen zur Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit, indem man den Arbeitsmarkt etwas liberalisierte.
Mounk: Interessant ist, dass damals die Lohnkosten in Deutschland sehr hoch waren und andere Länder im Kostenwettbewerb besser dastanden. Dennoch hatten deutsche Autohersteller einen echten technologischen Vorsprung. Heute steckt die deutsche Autoindustrie nicht nur deshalb in der Krise, weil Autos anderswo günstiger produziert werden, sondern weil nicht mehr klar ist, ob deutsche Marken noch die gleiche Anziehungs- und Innovationskraft haben wie früher.
Münchau: Die Kosten sind ein Faktor – die in Deutschland produzierten Autos sind schlicht zu teuer. Aber diese Unternehmen haben inzwischen Fabriken auf der ganzen Welt. Sie beziehen ihre Bauteile von überall. Wie du sagst, das größere Problem ist: Die Autos sind nicht mehr das, was sie einmal waren. Deutsche Elektroautos sind absoluter Murks. Momentan gibt es in Deutschland eine fast paranoide Haltung gegenüber Batterietechnologien. Es wurde investiert, aber praktisch alle diese Unternehmen sind gescheitert. Doch was mich noch mehr besorgt, ist die Software. Hier zeigen die deutschen Unternehmen keinerlei Interesse. Sie haben überhaupt nicht in digitale Technologien investiert. Das bedeutet, sie hinken hinterher.
Mounk: Nur als kleine Illustration – ich könnte mich irren, aber ich glaube, das Technologieunternehmen mit der mit Abstand höchsten Marktkapitalisierung in Deutschland ist immer noch SAP, das 1972 gegründet wurde.
Münchau: Das stimmt. SAP ist ein Veteran unter den Digitalunternehmen. Es bietet vollständig integrierte Business-Software an, von Buchhaltung bis Lagerverwaltung, und hat sich in diesem Nischenmarkt lange gehalten. Es ist nicht so dynamisch wie Google, Amazon oder Facebook. Es stammt aus einer anderen Generation.
Mounk: Ich glaube nicht, dass die großen Tech-Firmen im Silicon Valley SAP als innovative Bedrohung sehen.
Münchau: Nein, definitiv nicht. Deutschland bringt in diesem Bereich nichts Neues hervor. Die Autoindustrie ist nirgendwo beim Thema Künstliche Intelligenz – und genau dort wird in zehn Jahren das große Geld verdient. Die deutsche Industrie wird wohl am Ende als Juniorpartner von Tesla oder chinesischen Herstellern dastehen, weil sie schlicht nicht über die Innovationskraft verfügt. Und das ist das eigentliche Problem. Es gibt kein Sparprogramm der Welt, das Innovation erzeugen kann – man muss investieren, um Innovation zu schaffen. Und genau das haben die Deutschen verlernt. Ein Exportüberschuss bedeutet, dass ein Land mehr spart als es investiert. Die Deutschen haben außerhalb ihres Landes investiert. Volkswagen hat Fabriken in China gebaut. Sie haben ein Klumpenrisiko geschaffen, weil sie genau in dem Sektor expandierten, in dem sie ohnehin schon tätig waren. Sie haben nicht in andere Bereiche investiert, die sie vor ihren eigenen Fehlern geschützt hätten.
Mounk: Ich stelle dir an der Stelle mal eine Frage. Du bist, wenn ich es richtig verstehe, stärker in der Volkswirtschaftslehre – also eher makroökonomisch orientiert. Anders als die Betriebswirtschaftslehre, die stärker auf die Ökonomie einzelner Unternehmen fokussiert ist, also eher eine Art Mikroökonomie. Ich glaube, dass es zwei verschiedene Erklärungen für die Krise der deutschen Autoindustrie gibt, die sich aus diesen beiden Perspektiven ergeben könnten. Eine mögliche Erklärung lautet: Deutschlands Wirtschaftsmodell war so stark auf Exporte fixiert, dass es auch die Außenpolitik und das Verhalten der Unternehmen geprägt hat. Das hat eine kulturelle Dimension, weil Deutschland sich lange als Exportweltmeister gesehen hat – eine Art Ersatz-Patriotismus für das Land. Man könnte sagen, dass diese Fixierung dazu führte, dass Deutschland falsche Wetten einging: auf billiges Gas aus Russland oder auf den Export nach China. Und diese Wetten gingen schief.
Aber jemand könnte dagegenhalten und sagen: Was ist mit der Betriebswirtschaft? In vielen Branchen sehen wir, dass etablierte Unternehmen es schwer haben, zu innovieren. Kodak war führend in der analogen Fotografie, aber weil sie dort so stark waren, fiel es ihnen extrem schwer, die digitale Revolution mitzugestalten. Als die Fotografie digital wurde, ging Kodak pleite. Ist Deutschland nicht einfach nur das Opfer genau dieses Musters?
Münchau: Absolut. In meinem Buch bringe ich das Beispiel von Smith Corona, einem US-amerikanischen Hersteller von Schreibmaschinen. Sie haben digitale Technologien erfolgreich in ihre Schreibmaschinen integriert und erreichten ihren Höhepunkt – glaube ich – 1989, als der PC längst erfunden war. Doch nur wenige Jahre später machte der Laserdrucker sie überflüssig.
Ich hätte auch nicht erwartet, dass VW und BMW die Weltmeister der Elektromobilität werden. Es ist schlicht nicht dasselbe Geschäft – genauso wie Zeitungen nicht die Besitzer von Social Media geworden sind. Das Problem in Deutschland ist, dass es anderen Unternehmen nicht erlaubt wurde, sich zu entwickeln. Deutschland hat kluge Leute, gute Schulen, hervorragende Universitäten. Es gibt viele erfolgreiche Deutsche auf der Welt. Aber warum gibt es nicht mehr SAPs? Warum gibt es keine SAPs in der Autoindustrie? Das liegt nicht an mangelnder Bildung. Es liegt am Gruppendenken. Das deutsche Modell beruhte auf der Annahme, dass Innovation immer von Volkswagen oder anderen etablierten Unternehmen kommt. Das Subventionssystem, die Art, wie EU-Fördermittel vergeben werden, führt dazu, dass Gelder immer bei bestehenden Unternehmen landen. Es gibt keinen Kapitalmarkt, der Start-ups mit Risikokapital unterstützt. Start-ups existieren, es hat sich etwas verbessert. Aber es gibt keinen Private-Equity-Markt, der ein kleines Start-up bis zur Börsenreife bringt. Dieser Weg ist blockiert. Deutschland ist kein Land für Unternehmer – und das hat mit Kosten, Steuern und Bürokratie zu tun.
Aber es ist auch eine kulturelle Frage. Es gilt in Deutschland nicht als cool, Unternehmer zu sein. Die Gesellschaft belohnt es nicht. Sie belohnt auch kein Scheitern. Wenn man in der EU ein Unternehmen gründen will, geht man nach Luxemburg oder Belgien – sie sind deutlich unternehmerfreundlicher.
Mounk: Angela Merkel war sich, zu ihrer Ehre, sehr bewusst, dass aus Deutschland kaum milliardenschwere Patente hervorgingen. Es gibt eine Vielzahl kleiner und mittelständischer Unternehmen, die wertvolle Innovationen hervorbringen. Aber es gibt nur sehr wenige deutsche Unternehmen, die Innovationen schaffen, die wirklich transformativ sind oder eine völlig neue, große Firma hervorbringen. Es ist nicht ganz klar, ob sie als Kanzlerin viel dagegen unternommen hat, aber zumindest schien sie das Problem erkannt zu haben. Mir scheint, dass die Wurzeln dieses Problems sehr tief reichen. Meine Mutter ist Dirigentin. Es wäre mir nie in den Sinn gekommen, dass ich eine Firma gründen sollte oder könnte – es lag völlig außerhalb meines sozialen Umfelds. Natürlich gibt es in Deutschland auch andere Milieus, die deutlich unternehmerischer geprägt sind. Deutschland hat viele Unternehmen. Aber ich denke, mein Beispiel ist bezeichnend für etwas Grundsätzliches. Ein weiteres Problem sehe ich bei den Universitäten. Deutschland hat viele solide Universitäten, aber aus historischen Gründen keine einzige Institution, die mit Harvard, Stanford, Cambridge oder Oxford mithalten kann – oder mit Tsinghua oder der Beijing Normal University. Dazu kommen bürokratische Hürden für Innovationen. Und als Folge davon gibt es kaum Venture-Capital-Firmen, die bereit sind, große Wetten auf Unternehmen einzugehen, die langfristig eine gewaltige Rendite abwerfen könnten.
Münchau: Die Probleme sind tiefgreifend, kulturell verankert und systemischer Natur. Ich war einer der Mitgründer der Financial Times Deutschland im Jahr 2000. Eines der ersten Dinge, die uns passiert sind, war die Gründung eines Betriebsrats. Wir waren als Start-up angetreten, um die etablierte Medienlandschaft herauszufordern – und fanden uns plötzlich mit denselben Strukturen und demselben Konservatismus konfrontiert wie unsere Konkurrenten.
In Deutschland gibt es einen enormen Widerstand gegen Veränderung. Man kann die deutschen Wahlen ziemlich genau als eine Art Reise-nach-Jerusalem-Spiel beschreiben. Es gibt vier Parteien und drei Stühle. Am Ende der Wahl sitzen drei Parteien auf den Stühlen, und eine landet in der Opposition. Die gleichen Parteien werden immer wieder in Koalitionen regieren. Die Unzufriedenheit mit der aktuellen Regierung ist zwar tief, aber mindestens eine der Parteien wird fast sicher wieder Teil der Regierung sein.
Wir haben eine Brandmauer gegen die AfD weil wir die Demokratie schützen wollen. Gleichzeitig gibt es viel Protektionismus – auch im Umgang mit Plattformen wie X und den Fake News, die dort verbreitet werden. In Amerika ist die Haltung dazu eher: „Ja, es gibt Fake News, dann lese ich eben etwas anderes.“ Die Menschen dort scheinen weniger ängstlich gegenüber der Welt zu sein. Mein Eindruck ist: Das 21. Jahrhundert und Deutschland passen nicht besonders gut zusammen.
Mounk: Nun ja, das 20. Jahrhundert und Deutschland haben auch nicht immer gut zusammengepasst. Ich möchte gleich auf die politischen Fragen zurückkommen, weil ja nun eine Wahl ansteht. Aber bevor wir dazu kommen, möchte ich noch einen Moment bei der Frage des Wandels bleiben. Mein erster Gedanke zu dem, was du gesagt hast, ist, dass mir sehr bewusst ist, dass das Schlimmste, was in der Politik passieren kann, weitaus bedeutender ist als das Beste, das man erreichen könnte. Deshalb bin ich normativ gesehen in praktisch keiner Situation ein Beschleunigungstheoretiker. Der Wunsch, dass Dinge erst schlimmer werden müssen, bevor sie besser werden können, ist fast immer ein Fehler.
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Empirisch betrachtet würde ich zwischen zwei Dingen unterscheiden. Erstens: Die einzige Bedingung, unter der sich etwas ändern würde, ist, wenn sich die Lage drastisch verschlechtert. Und zweitens: Es könnte sein, dass sich die Lage drastisch verschlechtert – und trotzdem nichts ändert. Dann stecken wir in einer noch größeren Krise, was genau der Grund ist, warum man sich diese Entwicklung nicht wünschen sollte. Was du gesagt hast, hat mich überzeugt, dass eine Verschlechterung der Situation nicht zwangsläufig dazu führt, dass Deutschland die notwendigen Reformen anstößt. Aber es hat mich nicht wirklich davon überzeugt, dass es eine realistische Chance gibt, dass Deutschland sich reformiert, ohne dass die Dinge vorher schlechter werden.
Der zweite Punkt, den ich machen wollte, betrifft die Frage, wie eine echte Verschlechterung aussehen würde. Wie du sagst, ist Deutschland nach wie vor ein wohlhabendes Land. Es gibt allgemeine Probleme mit der Infrastruktur, aber wenn man nach Deutschland reist, ist es offensichtlich ein funktionierendes Land, in dem die meisten Menschen in einem hohen materiellen Wohlstand leben und auch bei anderen Indikatoren gut abschneiden.
Münchau: Wenn wir über Niedergang sprechen, stellt sich immer die Frage: Wie endet das? Oft ist die wahrscheinlichste Entwicklung, dass der Niedergang einfach passiert – und nicht gestoppt wird. Er verläuft langsam und dann plötzlich. Diese Entwicklung läuft nun schon seit fast zehn Jahren. Die deutsche Industrie begann ziemlich bald nach dem Brexit-Referendum zu stagnieren. Großbritannien konnte nicht mehr in die Lieferketten integriert werden, was ein harter Schlag für die deutsche Wirtschaft war. Man hätte flexiblere Lieferketten benötigt, um krisenresistenter zu sein. Dann kam der russische Angriffskrieg, der die Energiepreise explodieren ließ. Und nun kommt Trump, der Zölle erhebt und Europa mit allen möglichen Drohungen überzieht. Es war eine Krise nach der anderen.
Deutschland steckt in einer Investitions- und Wettbewerbsfähigkeitskrise, die sich einfach fortsetzen wird. Volkswagen wollte drei Werke schließen, doch die Regierung und die Gewerkschaften übten Druck aus, dies nicht zu tun. Also einigte man sich auf den klassischen deutschen Kompromiss – die Gewerkschaften verzichten auf einen Teil der Löhne, und alles bleibt im Konsens. Aber es ist schwer zu sehen, wie dieser Kompromiss das eigentliche Innovationsproblem des Unternehmens lösen soll. Ob Volkswagen in Wolfsburg oder in der Slowakei produziert, spielt keine Rolle. Entscheidend ist, dass das Unternehmen keinerlei Interesse an moderner Software-Technologie zeigt. Ich habe noch nie einen deutschen Automanager gehört, der etwas Kluges über Künstliche Intelligenz gesagt hat oder sich mit den Zukunftsthemen des 21. Jahrhunderts so auseinandersetzt, wie es Tech-Unternehmer in anderen Teilen der Welt tun.
Lass mich versuchen, den weiteren Verlauf zu skizzieren. Nehmen wir an, die Umfragen stimmen ungefähr. Friedrich Merz wird Kanzler, bildet eine Koalition – vielleicht mit der SPD. Es gibt einige kosmetische Veränderungen, ein paar wettbewerbsfördernde Maßnahmen, das Übliche. Und dann wird man feststellen, dass das Problem immer noch besteht, dass Deutschland weiterhin hinter China und den USA zurückfällt. Und bei der nächsten Wahl wird die AfD vermutlich die größte Partei sein, mit rund 30 Prozent. Dann wird es politisch nicht mehr möglich sein, eine Regierung ohne sie zu bilden. Genau das ist gerade in Österreich passiert: Die traditionellen Mitte-Parteien – sehr ähnlich den deutschen – konnten keine Regierung mehr bilden. Dann wird es eine rechte Regierung geben, und dann wird es wirklich schlimm. Das Hauptmerkmal sowohl der AfD als auch der linken Parteien ist nicht, dass sie besonders extrem rechts oder links sind. Sondern, dass sie stärker als alle anderen am alten System festhalten. Sie wollen mehr Stahlwerke. Ich glaube nicht, dass Elon Musk wusste, wen er da unterstützt hat. Die AfD ist die am wenigsten technikfreundliche Partei in Deutschland.
Mounk: Lass uns zur Politik übergehen. Hat Deutschland in gewisser Weise die falschen Lehren aus den letzten 60 Jahren gezogen – vielleicht sogar in einem breiteren intellektuellen Sinne? Deutschland hat die Katastrophe des Zweiten Weltkriegs durchlebt, und die politischen Führer nach 1945 hatten die Weisheit und den Weitblick, das Land klar in die westliche Allianz zu integrieren. Deutschland wurde zunächst eine unvollkommene, aber echte Demokratie, die mit der Zeit freier wurde. Von Anfang an war das größte Ziel der politischen Elite wie auch der Bürger – was angesichts der Geschichte verständlich ist – Stabilität. Doch mir scheint, dass diese Grundhaltung inzwischen alle etablierten Parteien in Deutschland prägt.
Das macht es extrem schwer, ein Modell zu verändern. Denn die Grundüberzeugung ist: Das unverantwortlichste Verhalten in der Welt ist es, eine starke Meinung zu haben und zu sagen: „Wir müssen jetzt eine ganze Reihe von Dingen ändern.“ Solche Leute gelten als Spinner oder Radikale. Die deutsche Öffentlichkeit erscheint mir viel weniger streitlustig als in England oder den USA – oder auf andere Weise sogar als in Frankreich. Das hat natürlich Vorteile: Es gibt keine Marjorie Taylor Greene in Deutschland, und einige der überdrehten „woken“ Ideen haben hier nicht so viel Einfluss wie in anderen Ländern. Aber es macht es auch enorm schwer, sich mit dem Bruch auseinanderzusetzen, den Deutschland gerade erlebt – sowohl wirtschaftlich als auch politisch.
Münchau: Das Problem an Konsensgesellschaften wie Deutschland ist, dass es keine Korrekturkräfte gibt, wenn der Konsens falsch liegt. In den USA gibt es das. Politische Umschwünge passieren oft unerwartet. Man glaubt, es gibt einen breiten Konsens in eine Richtung – und dann gewinnt plötzlich Donald Trump die Wahl und alles geht in eine völlig andere Richtung. Das passiert in Deutschland nicht. Ein Beispiel: Die Autoindustrie ist gescheitert, weil die gesamte Branche und die Regierung an sie geglaubt haben. Es gab niemanden wie Elon Musk, der gesagt hat: „Ich mache das anders. Ich teste das Modell.“ Denn die Medien und das ganze System hätten sich gegen ihn gestellt. Das ist der Effekt einer Konsensgesellschaft. Es betrifft nicht nur Unternehmen, sondern alle. Es ist das gesamte intellektuelle und wirtschaftliche Klima. Ich glaube nicht, dass es extrem schlimm kommen wird. Der Niedergang kann langsam und schleichend verlaufen. Industrien verschwinden nicht einfach – sie reduzieren einfach ihre Produktion. Investitionen werden woanders getätigt, und es wird einige Stellenstreichungen geben. Wenn man, wie Deutschland, von einem sehr hohen Niveau startet, kann dieser Prozess lange dauern.
Mounk: Nun zu den Neuwahlen am 23. Februar. Wie sind die Aussichten für die kommende Wahl? Und spielt es überhaupt eine Rolle, wer gewinnt?
Münchau: Es gibt eine gewisse Unsicherheit, weil das Schicksal von drei Parteien ziemlich ungewiss ist: der FDP, der Linkspartei und der Wagenknecht-Abspaltung. Sie alle liegen in den Umfragen bei etwa 5 Prozent. Sie könnten alle aus dem Bundestag fliegen – oder manche bleiben drin, andere nicht. Es gibt also ein gewisses Maß an Unsicherheit bei der Koalitionsbildung. Aber es ist praktisch ausgeschlossen, eine Regierung gegen Friedrich Merz zu bilden. Er wird also mit hoher Wahrscheinlichkeit Kanzler, es sei denn, seine Partei erlebt einen völligen Absturz – was ich nicht erwarte, aber auch nicht völlig ausschließen würde.
Wenn die Umfragen stimmen, hat Merz nur eine realistische Koalitionsoption: die SPD. Das würde zu einer Großen Koalition führen – ein Begriff, den wir aus der Zeit kennen, als beide Parteien jeweils 40 Prozent der Wähler hinter sich vereinen konnten. Stell dir eine Koalition zwischen Republikanern und Demokraten in den USA oder zwischen Tories und Labour im Vereinigten Königreich vor. In diesen Ländern wäre das kaum vorstellbar, aber in Deutschland ist es eine etablierte Praxis. Das würde bedeuten, dass Deutschland von einer zentristischen Großen Koalition regiert wird, während die Grünen die größte Oppositionspartei wären. Man sollte nicht erwarten, dass diese Koalition etwas grundlegend anders macht als die aktuelle Regierung. Falls Merz jedoch eine Wahl zwischen der SPD und den Grünen hätte und sich für die Grünen entscheidet, bekäme man eine leicht andere Mischung. Die Grünen könnten offener für einige seiner steuerpolitischen Vorschläge sein und ihn möglicherweise in der Ukraine-Politik unterstützen. Olaf Scholz hat sich in dieser Frage als sehr zögerlich erwiesen. Erst kürzlich blockierte er weitere drei Milliarden Euro an Hilfen für die Ukraine, obwohl seine Außenministerin und sein Verteidigungsminister sie forderten. Scholz hat in der Ukraine-Frage ein doppeltes Spiel gespielt: Er gibt sich als Unterstützer Kiews, während er hinter den Kulissen immer wieder deutsche Waffenlieferungen verzögert oder zu verhindern versucht.
Mounk: Erzähl uns ein wenig über Friedrich Merz. Denn während wir dieses Gespräch aufzeichnen, ist er mit hoher Wahrscheinlichkeit Deutschlands nächster Kanzler. In den USA ist er jedoch kaum bekannt.
Münchau: Friedrich Merz war lange Zeit eine Art Brandstifter am rechten Rand der CDU. Er stammt aus dem Sauerland, einer konservativen Region in Westfalen. Er ist ein scharfer Redner – und das ist eigentlich ein schlechtes Zeichen, wenn man echte Veränderungen will. Man könnte sagen: „Wir wollen das Bürgergeld abschaffen, ein massiv teures Sozialprogramm. Wir wollen die Verteidigungsausgaben auf drei Prozent des BIP erhöhen. Und wir wollen die Steuern senken.“ Wenn das seine Bedingungen wären, unter denen er in eine Regierung geht, und er keine Koalition mit Parteien eingehen würde, die das nicht akzeptieren, dann wäre das ein klares Signal. Aber genau das wird er nicht tun. Er mäßigt bereits seine Forderungen, weil er weiß, dass er einen Deal machen muss. Und genau das zeigt das eigentliche Problem: Es geht nicht um eine grundlegende politische Neuausrichtung, sondern um das Aushandeln eines Deals. Merz ist ein überzeugter Transatlantiker. Er hatte eine führende Position bei BlackRock in Deutschland inne und kennt das amerikanische Kapitalismus-Modell wohl besser als jeder deutsche Politiker vor ihm. Aber er spricht kaum darüber. Er glaubt immer noch, dass das deutsche Modell grundsätzlich funktioniert – es müsse nur besser verwaltet werden. Trotz seiner Verbindungen in die USA ist er tief im deutschen Konservatismus verwurzelt und wird vermutlich keine mutigen Schritte wagen.
Mounk: Zum Abschluss unseres politischen Rundblicks: Erzähl uns etwas über die AfD. Eine deiner früheren Bemerkungen war interessant – dass die Partei eher zu konservativ als zu radikal sei. Für wie gefährlich hältst du die AfD?
Münchau: Die AfD will aus der EU austreten, aus der NATO austreten, Deutschland aus allen internationalen Verträgen herausholen. Das ist eine radikale Position – weitaus radikaler als die von Marine Le Pen. Le Pen hat ihren früheren EU-Austrittskurs längst aufgegeben. Die AfD begann als konservativ-liberale Partei und entwickelte sich zu einer nationalistischen Partei. Ihr Hauptthema ist heute die Migration. Ihre Einwanderungspolitik ähnelt stark der von Donald Trump: Es geht nicht nur darum, Migration zu stoppen, sondern aktiv Menschen aus dem Land zu drängen. Das ist das extremste Ende der Migrationsdebatte – und hat mit keiner der wirtschaftlichen Fragen zu tun, über die wir zuvor gesprochen haben. Die AfD interessiert sich nicht für Unternehmertum oder Technologie. Sie sind keine Nazis – es gibt Nazis in ihren Reihen, das würde ich schon sagen, aber die Parteiführung selbst ist es nicht. Sie ist rechts, aber ich würde sie nicht als „extrem rechts“ bezeichnen. In Deutschland liegt sie klar außerhalb des politischen Konsenses, bewegt sich aber innerhalb der verfassungsmäßigen Grenzen. Die Partei versucht bewusst, legal zu bleiben.
Allerdings gibt es viele zwielichtige Gestalten in ihrem Umfeld. Sie hat enge Verbindungen nach Russland und China. Und einige prominente AfD-Politiker wurden wiederholt verklagt, weil sie in ihren Reden Nazi-Symbole verwendet haben – was in Deutschland illegal ist. Diese Schatten hängen über der Partei. Ich gehe davon aus, dass sich die AfD ähnlich entwickeln wird wie Marine Le Pens Partei in Frankreich. Sie wird erkennen, dass sie sich mäßigen muss, wenn sie in die Regierung kommen will. Sie wird die extremsten Elemente ihrer Partei eindämmen und diese Leute irgendwann ausschließen müssen. Wenn das geschieht, könnte sie eine Koalition mit der CDU eingehen. Ich rechne damit, dass das in etwa vier Jahren passiert.
Mounk: Die aktuellen Umfragen sehen die AfD bei etwa 18 bis 21 Prozent. Das ist ein erheblicher Anteil der Wählerschaft – höher als bei jeder ähnlich radikalen Partei seit Gründung der Bundesrepublik. Gleichzeitig liegt die AfD aber deutlich unter dem Niveau anderer rechtspopulistischer Parteien in Europa. Ich glaube, das liegt nicht an einer deutschen „Ausnahme“, sondern daran, dass die AfD es bisher schlechter verstanden hat als etwa Marine Le Pen, sich von ihren problematischsten Flügeln zu lösen. Ihr wahres Wahlinteresse dürfte also in genau dieser Richtung liegen.
Lass uns abschließend noch über Europa sprechen – insbesondere über den Zustand des Euro. Du warst einer der prominentesten Kritiker der deutschen Politik während der Eurokrise. Du hast gewarnt, dass Deutschlands Weigerung, eine stärkere politische Integration voranzutreiben oder eine Lösung zu finden, die den südlichen EU-Staaten Wachstum und Innovation ermöglicht, langfristig desaströse Folgen haben könnte. Man könnte jetzt aber argumentieren: Ja, es gab große wirtschaftliche Schmerzen in Griechenland und Spanien. Aber letztlich sind diese Länder überraschend gut aus der Krise herausgekommen. Griechenland wächst heute wieder stark. Und Italien gehört aktuell sogar zu den dynamischeren großen Volkswirtschaften der EU. Ich vermute, dass du diese optimistische Einschätzung nicht teilst. Warum nicht?
Münchau: Ich stimme nicht zu, weil Italien nicht „dynamisch“ ist. Italien ist flexibel. Das ist eher eine kulturelle als eine wirtschaftliche Eigenschaft. Ich würde die italienische Wirtschaft nicht als leistungsfähig beschreiben. Der IWF prognostiziert für 2029 ein Wachstum von gerade einmal 0,7 Prozent – genau dasselbe wie für Deutschland.
Griechenland hat sich tatsächlich besser erholt. Aber kleine Länder können sich leichter anpassen als große. Der Anpassungsprozess war unglaublich brutal. Die griechische Gesellschaft ist heute extrem zerrissen. Die Wut auf Deutschland ist in einigen Teilen des Landes enorm. Griechenland ist kein Land, auf das Deutschland als Verbündeten oder Partner bauen kann. Irland und Spanien sind anders. Irland hatte eine klassische Finanzkrise. Aber Irland war immer sehr anpassungsfähig. Die Maßnahmen, die dort ergriffen wurden, waren sinnvoll und haben das Finanzsystem stabilisiert. Spanien bekam keine vollständige Rettung, sondern nur eine Bankenrettung. Die spanische Fiskalpolitik war eigentlich in Ordnung – das Problem lag im Bankensektor, der durch eine Immobilienblase getroffen wurde. Spanien war zu schwach, um das alleine aufzufangen, also gab es Hilfen. Doch Spanien hat alles zurückgezahlt und die Krise letztlich ohne nachhaltige Schäden überstanden. Der eigentliche Unterschied liegt in den politischen Entscheidungen und im gesellschaftlichen Konsens darüber, wie eine Wirtschaft funktionieren sollte. Das Problem in der Eurozone ist, dass die Länder zunehmend auseinanderdriften. Stell dir vor, es kommt zu einer Finanzkrise in Frankreich. Politischer Wille, sie zu lösen? Fehlanzeige. Heute will niemand mehr eine Fiskalunion. Die Eurozone ist im Grunde eine Währungsunion, die niemals eine Fiskalunion sein wird.
Mounk: Du hast früher oft argumentiert, dass eine Währungsunion ohne eine gemeinsame Fiskalpolitik ein grundlegendes Problem ist. Kannst du das für diejenigen erklären, die diese Debatte vor einem Jahrzehnt nicht verfolgt haben oder eine Auffrischung brauchen?
Münchau: Eine Währungsunion ohne Fiskalunion ist letztlich ein System fester Wechselkurse. Die Länder haben zwar dieselbe Währung und dieselben politischen Mechanismen, aber ökonomisch ist es nicht fundamental anders als ein starres Wechselkursregime. Und in der Vergangenheit sind alle festen Wechselkurssysteme früher oder später zerbrochen. Irgendwann wird ein Land ein Interesse daran haben, auszutreten. Beispielsweise, wenn die Europäische Zentralbank die Inflation nicht in den Griff bekommt. Die EZB hat ihr Inflationsziel seit fünf Jahren nicht erreicht. Wenn sie es in den nächsten fünf Jahren wieder nicht erreicht, könnte ich mir gut vorstellen, dass ein nordeuropäisches Land – vielleicht sogar Deutschland – sagt: „Wir können das besser allein.“ Und tatsächlich könnten sie es.
Griechenland war einmal kurz davor, aus dem Euro auszutreten. Wäre das passiert, wäre die Eurozone kollabiert. Das gesamte System ist nicht darauf ausgelegt, dass jemand austritt. Es bräuchte nur eine einzige Wahl in einem der 21 Mitgliedstaaten, um eine riesige Krise auszulösen.Man braucht eine Fiskalunion, wenn man eine politische Union will – das gehört zusammen. Man kann gewisse technische Probleme durch finanzielle Strukturen überbrücken. Aber das grundlegende politische Problem bleibt: Es gibt keine echte Solidarität in der Eurozone.
Mounk: Was sagt uns all das über den Zustand der Europäischen Union insgesamt? Als ich aufwuchs, gab es noch das Gefühl, dass das europäische Projekt etwas Großes, fast Edles sei – zum Teil im Kontrast zur dunklen Vergangenheit des Kontinents, zum Teil durch die Hoffnung, dass daraus eine gemeinsame europäische politische und kulturelle Identität entstehen könnte, die nationale Unterschiede überwindet. Ich glaube, dieses Gefühl ist verschwunden.
Münchau: Ich erinnere mich, als ich in den 1980er Jahren als junger Journalist über die europäische Wirtschaft zu schreiben begann. Das war die Hochphase der europäischen Integration. Deutschland und Frankreich tauschten Minister aus, hielten gemeinsame Kabinettssitzungen ab. Es gab deutsch-französische Freundschaftsvereine. Brüssel war ein lebendiger Ort, an dem nationale und europäische Politiker sich trafen. Meine Familie und ich führten ein sehr europäisches Leben. Der Euro wurde 1999 eingeführt, der Schengen-Raum wurde erweitert. Es fühlte sich an wie der Beginn von etwas Großem.
Doch diese Dynamik hat sich völlig erschöpft. Nach der Einführung des Euro verschwand das Interesse an weiteren Integrationsschritten. Die Debatte über eine politische oder fiskalische Union brach zusammen. Stattdessen drehte sich plötzlich alles um Wettbewerbsfähigkeit – das deutsche Modell der Kostenkontrolle wurde zum europäischen Mantra. Dann kam die EU-Erweiterung, die ihre eigenen Herausforderungen mitbrachte, insbesondere mit Ländern wie Polen und Ungarn, die dem Euro gar nicht beitraten. Angela Merkel interessierte sich kaum für die Eurozone. Ihr Hauptaugenmerk lag auf Mittel- und Osteuropa, auf der wirtschaftlichen Integration zwischen Ost und West. Das funktionierte in gewissem Maße. Gleichzeitig spielte sie eine entscheidende Rolle dabei, dass Deutschland nach dem syrischen Bürgerkrieg die große Welle von Flüchtlingen im Jahr 2015 aufnahm. Währenddessen wurde die Europäische Kommission mächtiger. Es war klar, dass die EU keine politische Union werden würde – also wurde sie eine Regulierungsunion. In Brüssel hieß es damals: Wir kontrollieren die Welt durch Regulierung. Also regulierten sie KI, sie regulierten Krypto – aber sie hatten keine eigenen Unternehmen in diesen Bereichen. Sie hatten selbst keinen Anteil am technologischen Fortschritt. Die EU wurde zunehmend bürokratisch, weil Regulierung nicht mehr – wie früher – von Unternehmen beeinflusst wurde, die möglichst wenige Vorgaben wollten, sondern von Verbraucherschutzorganisationen, die möglichst harte Regeln forderten.
Mounk: Naja, diese Organisationen behaupteten, im Namen der Verbraucher zu sprechen. Ich bezweifle, dass der durchschnittliche Europäer tatsächlich eine „Cookie-Infrastruktur“ wollte, bei der er auf jeder neuen Webseite endlose Zustimmungen klicken muss.
Münchau: Die Cookie-Richtlinie war eine der absurdesten Erfindungen der EU – und die Welt leidet nun darunter. Das Internet wurde fast unbenutzbar gemacht. Aber genau diese Mentalität setzt sich nun in der Regulierung von Künstlicher Intelligenz und Kryptowährungen fort. Niemand würde heute in Europa ein KI-Startup gründen – die Hürden sind zu hoch. Statt eine Weltmacht zu werden, ist die EU eine Super-Regulierungsbehörde geworden. Und jetzt versucht sie, sich mit der Ukraine-Frage als geopolitische Großmacht neu zu erfinden – nur um festzustellen, dass sie weder Geld noch Macht hat. Außenpolitische Entscheidungen erfordern Einstimmigkeit. Viktor Orbán und andere rechte Regierungen blockieren daher alle wichtigen Beschlüsse und nutzen ihre Macht, um der EU immer wieder neue Zugeständnisse abzuringen. Das ganze System funktioniert nicht mehr. Ich denke, die EU hat strategisch große Fehler gemacht. Und für mich war 1999 der entscheidende Moment, als sie die Fiskalunion faktisch aufgab. Eine Fiskalunion wäre notwendig gewesen, um eine Bankenunion zu schaffen. Eine Bankenunion wäre notwendig gewesen, um eine Kapitalmarktunion zu ermöglichen. Und eine Kapitalmarktunion wäre notwendig gewesen, um eine echte Startup-Kultur in Europa zu etablieren.
Mounk: Meine letzte Frage: Was bedeutet das alles für die Zukunft? Stecken wir einfach mit einer Europäischen Union fest, die – ähnlich wie die deutsche Wirtschaft – langsam weiter verfällt und stagniert? Ist das das Beste, worauf wir in den nächsten Jahrzehnten hoffen können?
Münchau: Ich glaube, dass eine echte europäische Integration letztlich kommen wird – aber möglicherweise nicht durch die EU, wie wir sie heute kennen. Es könnte gut sein, dass die EU scheitert und es zu einem mehr oder weniger chaotischen Zerfall kommt. Einige Länder könnten sagen: Jetzt reicht’s. Der Brexit hat kein Domino ausgelöst, weil Großbritannien den Austritt schlecht gemanagt hat. Aber es könnte sein, dass ein nordeuropäisches Land irgendwann feststellt:
„Die Regulierung aus Brüssel zerstört unsere Tech-Industrie. Ohne die EU könnten wir das besser. Der Binnenmarkt dreht sich nur um veraltete Industrien – Autos, Maschinenbau, physische Güter. Wir brauchen das nicht mehr. Wir können chinesische Autos zollfrei importieren und günstigere, bessere Fahrzeuge bekommen. Wir können unsere Software weltweit verkaufen, ohne die Brüsseler Vorschriften. Warum sollten wir uns weiterhin mit diesen Regularien herumschlagen?“
Das Szenario, dass es rational wird, die EU zu verlassen, war früher undenkbar. Heute ist es weniger irrational als je zuvor. Ich glaube nicht, dass wir diesen Punkt schon erreicht haben. Aber wenn sich jemand wirtschaftlich erfolgreicher als die EZB und der Binnenmarkt erweist, könnte es passieren. Was wir zudem beobachten: Die politische Kluft zwischen den EU-Staaten wächst. Vor fünf Jahren war sie größer als vor 15 Jahren. Heute ist sie größer als vor fünf Jahren. Und ich ziehe daraus den Schluss: Dieses Projekt ist nicht nachhaltig. Und alles, was nicht nachhaltig ist, endet irgendwann. Die Frage ist nur, wie es endet – und was dann kommt. Es könnte gut sein, dass einige Länder austreten und dann feststellen, dass sie eine neue europäische Struktur aufbauen wollen – aber diesmal richtig. Eine Rückkehr zu nationalen Währungen wäre unlogisch. Also könnte eine neue Union mit einer echten Fiskalunion entstehen, um das frühere Chaos zu vermeiden. Doch das hängt alles von den politischen Führungen ab. Und wir dürfen nicht vergessen: Reiche Länder können sehr lange stagnieren. Das Vereinigte Königreich stagnierte jahrzehntelang. In den frühen 1980ern befand sich das Land immer noch im Niedergang – bis sich die politische Haltung änderte. Plötzlich wurde Großbritannien das „Go-to-Land“ für Investoren. Deutschland und Europa könnten noch sehr lange im Niedergang verharren. Aber sie werden sich nicht für immer damit abfinden. Doch der Widerstand gegen Veränderungen ist enorm. Was wir hier sehen, ist ein Staatsversagen. Nicht nur das Versagen des deutschen Staates – sondern das Versagen des europäischen Staates. Und solche Krisen führen letztlich zu viel radikaleren Umbrüchen, als wir uns heute vorstellen können.
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Dieses Transkript wurde mit Hilfe von KI übersetzt und von Niya Krasteva redigiert.