Coleman Hughes über das Erbe der Sklaverei
Außerdem sprechen Yascha Mounk und Coleman Hughes über das Konzept des systemischen Rassismus.
Hinweis der Redaktion: Dieser Podcast wurde im Rahmen der Partnerschaft von Persuasion mit dem Programm Civil Discourse @ MIT produziert, bei dem Coleman Hughes kürzlich an einer Podiumsdiskussion zum Thema „Sollte sich die amerikanische Gesellschaft zur Farblindheit bekennen?“ teilgenommen hat. Um mehr über Civil Discourse @ MIT zu erfahren, besuchen Sie die Website des Programms hier.
Coleman Hughes ist Autor und Moderator des Podcasts Conversations with Coleman. Er ist Verfasser des Buches The End of Race Politics: Arguments for a Colorblind America.
In dieser Woche sprechen Yascha Mounk und Coleman Hughes über das Erbe der Sklaverei in den Vereinigten Staaten, den Krieg gegen Drogen und die Frage, ob es systemischen Rassismus gibt.
Das Transkript wurde gekürzt und zur besseren Verständlichkeit leicht bearbeitet.
Yascha Mounk: Coleman, ich weiß, dass du in den letzten Monaten in Austin warst, um dort einen Uni-Kurs zu unterrichten. In diesem Kurs – und auch in einigen deiner Texte – hast du dich intensiv mit dem Erbe der Sklaverei beschäftigt, einem Thema, das die amerikanische Geschichte auf tiefgreifende Weise geprägt hat und auch heute noch reale Auswirkungen hat – wenn auch vielleicht nicht immer auf die Weise, wie viele es sich vorstellen. Was sind deine Gedanken zu diesem Thema, auf Grundlage deiner Recherchen und deiner Lehrerfahrung?
Coleman Hughes: Zunächst einmal fühlte ich mich sehr geehrt, die seltene Gelegenheit zu bekommen, an der University of Austin zu unterrichten – einer neuen Uni, die sich gerade in ihrem ersten Jahr befindet. Ich habe Studienanfänger und Anfängerinnen unterrichtet. Sie waren nicht alle im klassischen Alter, einige waren älter. Aber ich wollte genau den Kurs gestalten, den ich mir in ihrem Alter selbst gewünscht hätte. Als ich in Columbia war, habe ich mehrere Seminare zu rassenbezogenen Themen besucht, und die meisten Texte dort kamen aus dem Mitte-links- bis links-außen-Spektrum. Ich wollte einen Kurs entwerfen, in dem man alles lesen kann – von Ta-Nehisi Coates auf der linken Seite bis zu Thomas Sowell oder Shelby Steele auf der rechten –, bei dem die Perspektiven zwischen diesen Polen ausgewogen sind, und der von der übergeordneten Frage geleitet wird: Was ist das Erbe der Sklaverei? Diese Frage wird so oft verwendet, dass wir selten innehalten und uns fragen, was sie eigentlich genau bedeutet.
Ich habe den Begriff „Erbe der Sklaverei“ im Kurs so gefasst, dass er sich auf alle langfristigen Konsequenzen der amerikanischen Sklaverei bezieht. Dann stellt sich die Frage: Was gehört da hinein – und was nicht? Ist Masseninhaftierung – also die Tatsache, dass Amerika pro Kopf eine extrem hohe Gefängnispopulation hat – Teil dieses Erbes? Da gibt es Leute wie Michelle Alexander, die sagen ja. Und andere sagen nein. Auch der Zerfall der schwarzen Familienstruktur – und zum Teil auch der weißen Arbeiterklasse – wird häufig in diesem Zusammenhang genannt. Gemeint ist hier der hohe Anteil vaterloser Haushalte in der schwarzen Community. Daniel Patrick Moynihan sagte in seinem berühmten Bericht in den 60er-Jahren ja (das sei Teil des Erbes). Herbert Gutman sagte in einem Buch in den 70ern nein. In meinem Kurs war das eine Woche: Erst lasen wir Moynihans Perspektive, dann Gutmans. Am Ende sollten die Studierenden selbst entscheiden, was sie davon halten. Es ging im Kurs nicht darum, ihnen etwas beizubringen im Sinne von „das ist richtig“. Natürlich habe ich meine eigenen Überzeugungen und die verschweige ich auch nicht – aber es ging viel mehr darum, ihnen beizubringen, wie man über diese Argumente nachdenkt und wie man sie kritisch bewertet, anstatt ihnen zu sagen, was ich für die Wahrheit halte. Es hat mir großen Spaß gemacht, das zu unterrichten. Ich finde, das ist ein dauerhaft wichtiges Thema.
Mounk: Ich stimme diesem pädagogischen Ansatz absolut zu. Wenn ich über die Identitätssynthese und „Wokeness“ unterrichte – also die Themen meines letzten Buchs –, mache ich das genauso. Ich habe zum Beispiel eine Woche zum Thema „kulturelle Aneignung“, in der ich sowohl die stärksten philosophischen Argumente dafür bespreche, warum man sich Sorgen machen sollte – wie es manche Autoren und Autorinnen tun –, als auch die besten Argumente dafür, kulturelle Durchmischung als positive Eigenschaft einer vielfältigen Gesellschaft zu feiern. Ich will nicht, dass die Studierenden am Ende meiner Meinung sind. Ich will, dass sie sich ernsthaft mit dem Stoff auseinandersetzen – und idealerweise ihre Meinung in irgendeiner Weise ändern. Wenn man sich vorher nie ernsthaft mit einem Thema beschäftigt hat und dann wirklich tief einsteigt, sollte man im Idealfall seine Sichtweise verändern. Das ist mein Anspruch.
Mounk: Lass uns in ein paar dieser Debatten eintauchen. Ich fände es wirklich interessant zu hören, was du für die stärksten Argumente auf beiden Seiten hältst – und auch, wo du selbst landest. Du hast schon zwei Themen angesprochen. Wenn man sich die hohe Inhaftierungsrate und die hohe Gewaltkriminalität in den USA anschaut: Sind das Folgen der Sklaverei? Oder haben sie eher andere Ursachen – etwa Individualismus, den Mythos des Wilden Westens oder andere Faktoren, auf die alternative Erklärungen verweisen würden?
Hughes: Wenn es um Kriminalität und Inhaftierung geht, denke ich, das ist ein Bereich, in dem das Erbe der Sklaverei mit unseren heutigen gesellschaftlichen Problemen wenig zu tun hat. Ich sehe das so: Man kann die meisten Länder in einem Koordinatensystem mit zwei Achsen einordnen – auf der einen Achse die Kriminalitätsrate, auf der anderen die staatliche Handlungsfähigkeit. Die meisten Länder Europas liegen im Bereich „niedrige Kriminalität, hohe staatliche Handlungsfähigkeit“. Mit staatlicher Handlungsfähigkeit meine ich die Fähigkeit eines Staates, Menschen bei einem Verbrechen tatsächlich ins Gefängnis zu bringen. Dann gibt es Länder wie – bis vor Kurzem – El Salvador oder weite Teile Lateinamerikas, mit hoher Kriminalität und niedriger Handlungsfähigkeit. Dort gibt es viele Verbrechen, und sie müssten vermutlich mehr Menschen inhaftieren, aber Kartelle haben dort freie Hand. Amerika ist eines der wenigen Länder auf der Welt mit sowohl hoher Kriminalität als auch hoher staatlicher Handlungsfähigkeit. Die beste empirische Forschung zur Masseninhaftierung führt etwa die Hälfte davon auf einen tatsächlichen Anstieg von Kriminalität zurück. Nicht bei Drogendelikten oder Bagatelldelikten, sondern bei Verbrechen, für die man wirklich ins Gefängnis gehört. Die andere Hälfte führt sie auf die sogenannte „prosecutorial discretion“ zurück – also die Freiheit lokaler Staatsanwälte, im Lauf der Jahre härter durchzugreifen bei Entscheidungen, die völlig in ihrer Macht liegen, etwa ob überhaupt Anklage erhoben wird. In meinem Kurs lasen wir Michelle Alexanders Buch The New Jim Crow und John Pfaffs Locked In. Ich denke, Pfaff hat die empirisch stärkeren Argumente auf seiner Seite.
Aber bei jenen Aspekten der Masseninhaftierung, die sich mit Rassenzugehörigkeit und Rassismus berühren, denke ich, dass Michelle Alexander und viele andere einen wahren und wichtigen Punkt machen. Nach den 60ern gab es durchaus viele Republikaner und republikanische Strategen, die versucht haben, südliche Wähler und Wählerinnen zu erreichen, indem sie „Segregation forever“ (Rassentrennung für immer) durch harmloser klingende Parolen ersetzten, die letztlich dieselben rassistischen Impulse bedienten. In der sogenannten „Südlichen Strategie“ haben mehrere republikanische Strategen – mindestens Lee Atwater und noch ein anderer – ziemlich offen eingeräumt, dass das eine bewusste Strategie war. Und das war Teil des Grundes, warum sie den Krieg gegen Drogen für eine gute Idee hielten. Es steht außer Frage, dass das einige Wähler und Wählerinnen angesprochen hat, die den Drogenkrieg als Vorwand sahen, um nach dem Ende der Rassentrennung Schwarze weiterhin einzusperren und zu kontrollieren.
Mein Einwand gegen dieses Argument ist: Wenn es um politische Maßnahmen geht, die parteiübergreifend und multirassisch beliebt sind, dann haben unterschiedliche Gruppen ganz unterschiedliche Gründe, sie zu unterstützen. Den Fokus nur auf einen bestimmten republikanischen Beweggrund für die Unterstützung des Drogenkriegs zu richten, bringt einen nicht wirklich weiter, wenn man verstehen will, warum der Krieg gegen Drogen überhaupt geführt wurde, warum er auch in der schwarzen Community beliebt war – und vor allem, welche Auswirkungen er hatte. Um ein Bild zu verwenden: Unterschiedliche Gruppen befürworten hohe illegale Einwanderung aus ganz unterschiedlichen Gründen. Wirtschaftsinteressen unterstützen sie wegen der billigen Arbeitskräfte, während Menschen auf der radikalen Linken sie aus humanitären Gründen befürworten. Ihre Beweggründe könnten kaum unterschiedlicher sein, und doch unterstützen sie dasselbe Phänomen – mit völlig verschiedenen Zielen. Für mich ist die interessantere Frage nicht nur, warum verschiedene Gruppen eine Politik aus unterschiedlichen Gründen unterstützen, sondern welche tatsächlichen Auswirkungen diese Politik hat. In The New Jim Crow macht Michelle Alexander – abgesehen von all den empirischen Taschenspielertricks in dem Buch – den Fehler, sich fast ausschließlich auf die Denkweise und Absichten einer Teilgruppe der Republikaner zu konzentrieren, anstatt die Haltung aller Befürworter des Drogenkriegs und die Effekte der Politik selbst zu untersuchen.
Mounk: Okay, lass uns da noch etwas tiefer einsteigen. Ich fang mal mit einer Anekdote an. Ich war vor ein paar Jahren in Hanover, New Hampshire, und saß in einer Buchhandlung, die sehr gezielt mit Büchern aus dem linken bis sehr linken Spektrum bestückt ist – mit einwandfrei progressivem Geschmack. Es gibt dort auch sehr gute Cafés, und wenn ich dort bin, setze ich mich gern in eines davon und arbeite.
Hughes: Progressive machen wirklich den besten Kaffee.
Mounk: Stimmt. Jedenfalls hörte ich irgendwann zufällig ein Gespräch mit. Da kam jemand rein – wahrscheinlich ein Dartmouth-Student – und fragte eine sehr sympathische junge Frau am Tresen, die wohl ebenfalls Dartmouth-Studentin war, nach Michelle Alexanders The New Jim Crow. Sie tippte etwas in den Computer und sagte dann: „Nein, wir haben kein Exemplar auf Lager. Soll ich es für dich bestellen?“ Und der Student sagte: „Klar, wenn du das bestellen könntest, wäre das super.“ Dann tippte sie weiter und meinte: „Tut mir leid, das steht auf unserer ‚Nicht-bestellen‘-Liste.“
Ich habe dann gefragt, warum dieses Buch auf der Nicht-bestellen-Liste dieser makellos progressiven Buchhandlung steht – und bekam eine ganz freundliche Antwort: Sie wisse das leider auch nicht genau, könne aber den Besitzer fragen. Ich habe das nie weiterverfolgt. Bis heute frage ich mich, was um Himmels willen Michelle Alexander getan haben könnte, um auf der schwarzen Liste eines progressiven Buchladens zu landen.
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Ich glaube, wir setzen hier schon ein gewisses Grundwissen über dieses Buch voraus. Es wurde bei einem kleinen Verlag veröffentlicht und hat zunächst kaum Exemplare verkauft – war dann aber ein langsam wachsender, enormer Erfolg. Über das letzte Jahr hinweg hat es viele Tausend, vermutlich Zehntausende oder vielleicht sogar Hunderttausende Male verkauft. Wie der Titel schon andeutet, ist die zentrale These, dass der eigentliche Zweck der Masseninhaftierung in den USA darin besteht, in gewisser Weise das Jim-Crow-System wiederherzustellen. Erklär uns doch ein wenig genauer, was das Hauptargument des Buches ist – und was du mit „empirischem Taschenspielertrick“ meintest.
Hughes: Michelle Alexander stellt in diesem Buch zwei große Behauptungen auf. Erstens: Der Grund für die Masseninhaftierung sei der Krieg gegen Drogen. Damit meint sie, dass es in den 70er- und 80er-Jahren im ganzen Land einen Krieg gegen Drogen gab, den sie wahlweise bei Reagan oder Nixon ansetzt. Ihrer Ansicht nach ist dieser Krieg verantwortlich für den massiven Anstieg der Gefängnispopulation in Amerika – etwa von den 1970ern bis 2005 oder 2010, als die Zahlen ihren Höchststand erreichten und langsam wieder sanken. Laut ihr begannen Politiker einfach, schwarze Männer einzusperren, indem sie eine moralische Panik rund um geringe Drogendelikte wie Marihuana auslösten – und das sei der Grund, warum es heute Masseninhaftierung gibt.
Die zweite These: Der Krieg gegen Drogen war eine Fortsetzung von Jim Crow mit anderen Mitteln, nachdem Jim Crow durch die Bürgerrechtsbewegung abgeschafft wurde. All die rassistische Energie sei umgeleitet worden – hinein in diesen Drogenkrieg –, der dazu diente, junge schwarze Männer zu kontrollieren und ihnen einen gesellschaftlichen Status aufzuzwingen, der dem unter Jim Crow ähnelte. Denn: Sobald du vorbestraft bist, darfst du nicht mehr wählen – genau wie unter Jim Crow. Du verlierst bestimmte Rechte usw.
Das große Problem daran – und ich würde sagen, das geht über eine Grenze hinaus und ist im Grunde intellektuelle Fahrlässigkeit – ist: Sie spricht ausschließlich über das Bundesgefängnissystem. Aber nur rund 13 % aller Inhaftierten in den USA sind in Bundesgefängnissen. In Bundesgefängnissen sitzt jemand wie Sam Bankman-Fried, weil Finanzverbrechen keine Bundesstaatsgrenzen kennen. Wenn du zum Beispiel Drogen zwischen Bundesstaaten transportierst, fällt das in den Zuständigkeitsbereich des Bundes. Aber das ist eine Minderheit der Inhaftierten – und das Bundesgefängnissystem ist deutlich überrepräsentiert bei Drogendelikten. 87 % aller Inhaftierten in den USA sitzen in staatlichen Gefängnissen. Und die haben mit dem, was der Kongress oder der Präsident macht, praktisch nichts zu tun. Sie werden von den Parlamenten und Gouverneuren der einzelnen Bundesstaaten kontrolliert. Und etwa die Hälfte der Insassen dort sitzt wegen Gewaltverbrechen. Rund 20 % oder weniger wegen Drogendelikten auf Staatsebene. Die Zahlen passen also einfach nicht zusammen. Es gibt keine realistische Möglichkeit, auf Basis der Drogenverurteilungen zu so einer Masseninhaftierung zu kommen. Es ergibt schlicht keinen Sinn – außer man ignoriert 87 % der Realität, also fast das ganze Bild. Genau das macht sie in dem Buch. Viele Menschen haben deshalb fälschlicherweise geglaubt, der Krieg gegen Drogen sei verantwortlich für die Masseninhaftierung – dabei war er das im Grunde nicht.
Mounk: Das Problem daran – das man oft in progressiven Politikanalysen findet, aber es gibt natürlich ein entsprechendes Pendant auf dem, was James Lindsay die „woke Rechte“ nennt – ist: Wenn du die falsche Analyse hast, wirst du das Problem auf Basis dieser Analyse nicht lösen können. Nehmen wir zum Beispiel den Gender Pay Gap. Viele Menschen glauben fälschlicherweise, dass der Lohnunterschied zwischen Männern und Frauen hauptsächlich daher kommt, dass Frauen für genau die gleiche Arbeit weniger bezahlt bekommen – entweder weil Arbeitgeber sie diskriminieren oder weil soziale Normen wirken, etwa dass Frauen schlechter verhandeln oder ähnliches. Das mag einen kleinen Teil des Unterschieds erklären – aber der Hauptgrund ist viel strukturierter. Es liegt etwa daran, dass man in Berufen wie der Juristerei oder anderen Karrieren, in denen man typischerweise in den Dreißigern Partner oder Partnerin wird, oft den Anschluss verliert, wenn man sich entscheidet, in dieser Phase Kinder zu bekommen. Und dieses Einkommenspotenzial holt man oft nie wieder auf. Das ist ein echtes Problem. Es ist ein echter Missstand. Frauen sollten Kinder in ihren Zwanzigern oder Dreißigern bekommen können – und trotzdem wieder auf die Partnerlaufbahn zurückkehren und ihren Beitrag zur Wirtschaft leisten. Aber wenn man eine zu simple Analyse darüber hat, wie das Problem entstanden ist, wird man es nicht lösen können.
Mounk: Das Gleiche gilt für die Masseninhaftierung. Wenn du glaubst, dass ein riesiger Teil der Gefängnispopulation aus nicht-gewalttätigen Drogendelikten besteht, und du dir dabei den lokalen Typen vorstellst, der gern mal einen Joint raucht und dafür jahrzehntelang weggesperrt wird – dann denkst du vielleicht: Okay, lasst uns ernsthaft versuchen, die Gefängnispopulation drastisch zu verkleinern. Aber das wird einfach nicht funktionieren. Ich finde, das hat sich auf interessante Weise gezeigt, als die Biden-Regierung – deutlich motiviert, einen bedeutenden, wenn auch angesichts der Gesamtzahlen eher symbolischen Schritt in Richtung Entkriminalisierung zu gehen – eine Reihe von Leuten begnadigt hat. Und plötzlich waren viele empört, gerade auch Progressive, die sagten: Nein, nein, nein – das sind doch die Bösen. Wie könnt ihr ausgerechnet diese Leute begnadigen? Das liegt zum Teil daran, dass es gar nicht so einfach ist, in Bundesgefängnissen Menschen mit sehr langen Haftstrafen wegen offensichtlicher Bagatelldelikte zu finden.
Und das ist noch bevor wir zu einer weiteren Ebene der Analyse kommen, die ich für besonders wichtig halte: In den USA spielt das Plea-Bargaining – also das Aushandeln eines Deals statt eines Gerichtsverfahrens – eine riesige Rolle. Angeklagte stehen unter enormem Druck, einen Deal anzunehmen, weil sie im Fall eines Prozesses mit noch längeren Strafen rechnen müssen. Das bedeutet: Wofür sie offiziell im Gefängnis sitzen, ist oft nicht das, was der Staat ursprünglich gegen sie in der Hand hatte. Manche der Leute, die formal für nicht-gewalttätige Verbrechen einsitzen, wurden in Wahrheit deshalb verfolgt, weil der Staat glaubte, sie hätten gewalttätige Straftaten begangen. Das macht alles noch komplizierter. Was bedeutet das also? Wenn du meinst, dass ein Teil von Michelle Alexanders Geschichte falsch ist – wie sieht dann die eigentliche, tiefere Geschichte aus?
Hughes: Die kurze Antwort ist: Ich weiß es nicht. Aber ich vermute, es gibt tief verwurzelte kulturelle Ursachen – und es hängt auch mit Immigration zusammen. Wenn man sich allein die Kriminalitätsraten von weißen Nordstaatlern im Vergleich zu weißen Südstaatlern ansieht, sieht man: Der Süden war schon immer gewalttätiger. Das hat kulturelle Wurzeln, möglicherweise sogar damit zu tun, aus welchen Regionen der britischen Inseln die Einwanderer ursprünglich kamen. Kulturen werden mitgebracht – und in der amerikanischen Geschichte gibt es Einwanderergruppen mit nahezu keiner Kriminalität und andere mit sehr hoher. Ich kenne also keine abschließende Antwort. Ein echtes Rätsel ist, dass die größte Welle von Kriminalität – und der Rückgang davon – in der US-Geschichte, beginnend etwa 1963, auf ihrem Höhepunkt um 1990, und danach mit rapide sinkenden Mordraten, bis sie wieder auf ein sehr niedriges Niveau fielen, bis heute keine allgemein akzeptierte Erklärung hat. Ich finde, das ist einer der großen Skandale der Sozialwissenschaften: Eine so massive Entwicklung – und wir verstehen sie kaum. Ich kann also auch nichts Besseres sagen als das, was ich in ein paar Büchern gelesen habe: zehn mögliche Ursachen, viele Fragezeichen.
Mounk: Ja, es kommt mir vor, als sei das ein bisschen wie beim Thema Ernährung. Auch da scheint es, als hätten wir einfach keine guten Antworten. Wir wissen nicht wirklich, wie Ernährung funktioniert, alle zehn Jahre ändert sich der wissenschaftliche Konsens, und manchmal will man einfach die Hände in die Luft werfen. In der Kriminologie ist es in gewisser Weise ähnlich. Eine der Grundfragen, die ich mir stelle, ist nicht nur, warum es in den 90er- und frühen 2000er-Jahren diesen drastischen Rückgang der Kriminalität gab. Sondern auch: Warum war dieser Rückgang in manchen Gegenden so viel stärker als in anderen? Wenn man sich etwa die Großstädte an der Ostküste 1990 oder 1985 anschaut – New York City, Washington D.C., Baltimore, Philadelphia – dann waren das wirklich gefährliche Orte mit sehr hohen Mord- und Gewaltraten. In den folgenden 30 Jahren haben sich New York und Washington D.C. vollkommen verändert. Philadelphia ist deutlich besser geworden, aber nicht ganz so stark. Baltimore hat sich ein wenig verbessert, ist aber inzwischen eindeutig die gefährlichste dieser vier Städte – was vor 30 oder 40 Jahren noch nicht der Fall war. Warum ist das so? Man würde denken, dass wir eine gute Erklärung dafür hätten, warum sich Baltimores Entwicklung so stark von der New Yorks unterscheidet. Ich habe vielen Leuten diese Frage gestellt – aber ich habe keine wirklich gute Antwort bekommen.
Hughes: Es ist eines der großen Rätsel – und es ist ohne Zweifel von enormer Bedeutung, auch wegen dem, was du vorhin gesagt hast. Viele Menschen, gerade auf der Linken, glaubten aufrichtig, dass man die Gefängnispopulation einfach reduzieren könne, indem man Marihuana legalisiert. Die Wahrheit ist: Die Gefängnispopulation ist tatsächlich zurückgegangen. Bei schwarzen Männern in ihren Zwanzigern hat sie sich zwischen 2001 und 2017 sogar halbiert – was bemerkenswert ist. Aber das lag vor allem daran, dass die Kriminalität gesunken ist. Was auch immer die Kriminalität verringert hat – das ist der Hebel, an dem Gefängnisabolitionisten ansetzen müssten. Und genau darüber wissen wir sehr wenig.
Mounk: Das ist wirklich spannend. Was bedeutet das deiner Meinung nach für die Politik der Zukunft – wenn wir einen Staat wollen, der idealerweise eine hohe staatliche Handlungsfähigkeit und eine niedrige Kriminalitätsrate hat? Einen Staat, in dem du bei einem Mord mit deutlich höherer Wahrscheinlichkeit im Gefängnis landest als derzeit? Die Aufklärungsrate von Morden in den USA liegt deutlich unter der in Deutschland oder Japan. Wir wollen, dass Mörder im Gefängnis landen. Aber wir wollen idealerweise auch, dass es überhaupt weniger Morde gibt – damit nicht so viele Menschen wegen Gewaltverbrechen in Bundesgefängnissen sitzen. Ich weiß, das ist eine riesige politische Frage – aber auch wenn wir das Gleichgewicht nicht komplett ändern können: Was denkst du?
Hughes: Zwei Dinge. Erstens – und da stimme ich dem Ökonomen Alex Tabarrok zu – denke ich, es sollte mehr Polizei und weniger Gefängnis geben. Immer wenn wir versucht haben, eine Stadt „zu entpolizeien“, war das eine Katastrophe. Die vielen Experimente nach 2020 reichen meiner Meinung nach aus, um das ein für alle Mal zu beweisen. Wenn du den Polizeiapparat kürzt, bekommst du einfach mehr Kriminalität. Dann klingelt die 911-Hotline ohne Pause, und die Leute warten zwei Stunden auf ein Polizeiauto, das kommt, wenn längst alles vorbei ist. Kriminelle sind keine Idioten. Sie verstehen die Anreize. Sie wissen: Am Ende ist es Cops gegen Räuber. Wenn es nur halb so viele Cops gibt, steigen ihre Chancen, davonzukommen. Andererseits – prominentes Beispiel – wenn ich höre, dass Sam Bankman-Fried zu über 20 Jahren Gefängnis verurteilt wurde, erscheint mir das übertrieben. Zu hart. Die Forschung zeigt sehr klar, dass längere Strafen kaum zusätzlichen Abschreckungseffekt haben – denn niemand kalkuliert ernsthaft den Unterschied zwischen fünf und zwanzig Jahren Gefängnis. Es ist wahrscheinlich unmenschlich, jemanden so lange einzusperren – außer bei mehrfachen Gewaltverbrechen. Das ist ein Grund, warum ich instinktiv mehr Polizei, aber weniger Gefängnis befürworte.
Zweitens: John Pfaff hat wie kaum ein anderer betont, dass die eigentliche Wurzel des Problems in der Macht der Staatsanwälte liegt. Es gibt keine Kontrolle, es ist extrem schwer zu untersuchen und zu reformieren, und Staatsanwälte haben gewaltigen Einfluss. Niemand weiß wirklich, was in deren Büros vor sich geht – außer denen, die dort arbeiten. Und in dem Maße, in dem sich ihre Anreize in den letzten 50 Jahren massiv verändert haben und sie immer härter geworden sind – verstehen wir nicht genau, warum das so ist oder wie man es ändern könnte, selbst wenn man wollte. Zu verstehen, was mit den Staatsanwälten los ist – das scheint zentral.
Mounk: Das heißt übrigens, dass das Problem zum Teil vielleicht auch zu viel Demokratie ist. Ein offensichtlicher Unterschied zwischen Staatsanwälten – und in manchen Bundesstaaten auch Richtern – in den USA und anderswo ist ja: Bei uns werden sie oft gewählt. In anderen Ländern nicht. Das heißt: Masseninhaftierung ist oft kein fremdbestimmtes Phänomen – weder durch das politische System noch durch eine ethnische Mehrheit –, sondern ein Ergebnis demokratischer Wahlen. In manchen Gegenden mag das eine Wählerschaft sein, die zu 60 % weiß und zu 40 % schwarz ist – und vielleicht spielen da rassische Dynamiken eine Rolle, gerade im amerikanischen Süden. Aber in vielen Regionen, wie du gesagt hast, unterstützen ethnische Minderheiten selbst härtere Urteile.
Die Anreize für Richter und Staatsanwälten sind dabei klar: Will ich wirklich das Risiko eingehen, jemanden mit einem Gewaltverbrechen milde zu bestrafen, wenn ich glaube, dass er vielleicht nicht rückfällig wird, erkennbar dazulernt – und sich mit einer moderaten Strafe wieder in die Gesellschaft eingliedern ließe? Aber dann denkt man: Vielleicht kostet mich das meine Wiederwahl. Dann lieber sicher: lange Strafe. Ich will meine Karriere nicht an so jemandem verlieren.
Kommen wir mal zu dem anderen Thema, das du angesprochen hast – das ich auch extrem interessant finde: den Zerfall der – ursprünglich „schwarzen Familie“ – aber dann vieler Familien der Arbeiterklasse in den USA. Als Daniel Patrick Moynihan seinen berühmten (oder berüchtigten) Bericht über die schwarze Familie veröffentlichte, warfen ihm viele vor, rassistische Motive zu haben oder das Thema auf eine sehr aufgeladene Weise zu behandeln. Aber eine der wirklich interessanten Entwicklungen ist: Alles, was er damals über schwarze Familien sagte, fand kurz darauf seine Entsprechung bei weißen Familien der unteren sozialen Schichten. Die durchschnittliche weiße Familie – besonders wenn die Eltern keinen Uni-Abschluss haben, besonders mit Wurzeln in Appalachia oder aus schottisch-irischer Abstammung – hat heute eine deutlich höhere Rate an familiärer Instabilität als schwarze Familien damals. Genau das schrieb Moynihan damals in seinem Bericht. Erzähl uns mehr über dieses Phänomen – und inwiefern es mit dem Erbe der Sklaverei zu tun hat oder auch nicht.
Hughes: 1965, glaube ich, veröffentlichte Daniel Patrick Moynihan seinen berühmten (oder berüchtigten) Bericht über „The Negro Family“, wie es damals hieß. Man muss den Kontext verstehen, in den er sich da einmischte. Er trat auf den Plan unmittelbar nach dem Höhepunkt der Bürgerrechtsbewegung – zwei Jahre nach Kings „I Have a Dream“-Rede, kurz nach dem Civil Rights Act von 1964, etwa zur Zeit des Voting Rights Act von 1965 und noch vor den schlimmen Unruhen der späten 60er, die viel von der damaligen Aufbruchsstimmung zerstörten. Er kommt also in einer Phase großen Optimismus’ über Amerikas moralischen Fortschritt in der Rassenfrage – und kippt dann, salopp gesagt, einen riesigen Haufen auf genau diesen Optimismus. Er sagt im Grunde: Schwarze Menschen werden trotz all dieser Fortschrittsgesetze keine echte wirtschaftliche oder soziale Gleichstellung erleben, solange wir nicht herausfinden, was mit der Familienstruktur los ist. Er schlägt regelrecht Alarm wegen einer Krise der Vaterlosigkeit. Und er sagt: Kein Gesetz, kein positives Narrativ wird wirklich in ökonomische Gleichheit münden, wenn wir dieses Problem nicht lösen.
Das war aus vielerlei Gründen unbequem. Für die einen, weil sie gerade den Sieg der Bürgerrechtsbewegung feiern wollten – und er im Grunde sagt: Das bringt weniger, als ihr glaubt. Für andere, weil er auf eine Realität hinweist, der viele lieber ausweichen. Wenn man auf der Straße sagt: „Ein Mann hat seine Familie verlassen“, denken die meisten einfach: „Klar, Arschloch. Hat seine Kinder im Stich gelassen. Was gibt’s da noch zu sagen?“ Das ist ein heikles Thema. Schwarze Menschen fühlen sich beschuldigt. Weiße fühlen sich als Rassisten dargestellt, wenn sie das Problem ansprechen. Moynihan versucht dazwischenzugehen: Er benennt das Phänomen, nennt es eine Krise und sagt, es untergräbt jede Möglichkeit von Gleichheit. Gleichzeitig sagt er aber auch: Die Ursache liegt im Erbe der Sklaverei. Er behauptet ausdrücklich nicht, dass es an irgendeinem Charakterfehler oder genetischen Makel bei Schwarzen liegt. Im Gegenteil – er widmet dem Thema ein ganzes Kapitel, ich glaube das zweite oder dritte in seinem Bericht.
Mounk: Erklär uns dieses Argument etwas genauer. Was genau ist es an der Sklaverei, das laut ihm dieses kulturelle Phänomen in den 60ern verursacht hat?
Hughes: Das ist ein Thema, das kaum theoretisch durchdrungen ist. Aber vereinfacht gesagt: Schwarze Familien wurden während der Sklaverei routinemäßig auseinandergerissen. Das ist eine historische Tatsache. Menschen wuchsen oft auf verschiedenen Plantagen auf, viele Meilen von ihren Eltern entfernt. Ehen wurden de facto getrennt. Das war einer der tragischsten Aspekte der Sklaverei. Frederick Douglass beschreibt das in seinen Memoiren – er traf seine Mutter nur ein- oder zweimal in seiner Kindheit, bei Besuchen auf einer weit entfernten Plantage. Das war völlig normal. Die Idee ist also, dass sich daraus ein kulturelles Muster zersplitterter Familien ergeben hat, das bis heute weiterwirkt. Dann hat Moynihan einen ganzen Abschnitt, in dem er darüber schreibt, dass die brasilianische Sklaverei – weil katholisch – viel „sanfter“ gewesen sei, und das dort solche Familienzerreißungen nicht stattfanden. Die amerikanische Sklaverei hingegen – protestantisch geprägt – sei viel grausamer gewesen. Deshalb, so seine These, sei es hier zu solchen Effekten gekommen.
Mounk: Ich nehme an, Historiker und Historikerinnen der brasilianischen Sklaverei hätten da einiges einzuwenden.
Hughes: Ja, auf jeden Fall. Er stützt sich dabei im Wesentlichen auf ein paar längere Zitate aus einem einzigen Buch – und das ist ziemlich zweifelhaft. Und man merkt halt auch: Moynihan selbst war katholisch. Vielleicht neigt er da etwas dazu, Katholizismus als die menschlichere Variante zu sehen. Aber jedenfalls sagt er: Erst kam die Sklaverei, dann kam Jim Crow – und Jim Crow habe insbesondere den schwarzen Mann erniedrigt, nicht die schwarze Frau. Das ist seine freudianisch-genderbasierte Analyse: Jim Crow zwang schwarze Männer in eine unterwürfige, zweite-Klasse-Haltung – „nicht in die Augen schauen“, „sich klein machen“. Und das habe die männliche Ehre so sehr verletzt, dass es die Familienstruktur dauerhaft beschädigt habe. Denn Männer – so Moynihan – brauchen es, stolz zu sein, die Brust rauszustrecken. Und wenn man das permanent unterdrückt, entsteht ein kulturelles Trauma. Das sei der Grund, warum viele schwarze Männer ihre Familien verlassen hätten – und nicht etwa ein persönliches Versagen. Er gibt nicht den Männern die Schuld, sondern der Geschichte. Trotzdem wurde er in der öffentlichen Debatte als Rassist bezeichnet.
Was ich interessant finde: Wenn man sich die Zahlen anschaut, die ihm damals Sorgen machten – die waren nichts im Vergleich zu dem, was 20, 30 Jahre später kam. Er sah also tatsächlich den Beginn einer Krise und schlug früh Alarm. Die spätere Entwicklung hat ihn im Grunde bestätigt. Zehn Jahre später, in den 70er-Jahren, hat sich dann Herbert Gutman zehn Jahre lang mit genau dieser Frage beschäftigt, weil ihn der Moynihan-Bericht so provozierte. Er hat jedes verfügbare Datenfragment zur Struktur schwarzer Familien gesammelt – und kam zu dem Schluss, dass dieser Trend wahrscheinlich erst in den 1920er- oder 30er-Jahren begann. Davor, so zeigt er, war der Anteil vaterloser Haushalte bei Schwarzen und Weißen ziemlich ähnlich. Und er fand etwas, das ich für sehr plausibel halte: Weil die Sklaverei schwarze Familien auseinandergerissen hatte, gab es nach dem Ende der Sklaverei eine starke Gegenbewegung – ein ganz starkes Bedürfnis, Familien wieder zu vereinen. Wie in Django Unchained – die Menschen suchten ihre Frauen, Männer, Kinder.
Anders gesagt: Die Sklaverei hatte wahrscheinlich eher eine Reaktion zur Folge – den Wunsch nach familiärem Zusammenhalt – als dass sie dauerhaft die Fähigkeit zur Familienbildung zerstört hätte. Genauso wie das Verbot zu lesen während der Sklaverei dazu führte, dass viele nach der Befreiung 1865 regelrecht besessen davon waren, lesen zu lernen. Gutman schrieb ein 400-seitiges Buch als Gegenthese zu Moynihan. Er liefert darin zwar keine sehr starke eigene Erklärung, warum sich dann doch dieser negative Trend entwickelte – aber es ist ein weiteres Beispiel, wie beim Kriminalitätsrückgang, für ein sozialwissenschaftliches Phänomen, das wir bis heute nicht wirklich verstehen.
Mounk: Das ist sicher ein Bereich, in dem ich zunächst große Sympathie für die Idee habe, dass das Erbe der Sklaverei eine Rolle gespielt haben könnte. Die Art und Weise, wie schwarze Familien damals zerrissen wurden, war extrem grausam. Es ist durchaus plausibel, dass das kulturelle Nachwirkungen hatte. Aber wie du sagst, es gibt zwei empirische Hinweise, die dagegen sprechen. Erstens: Es ist schwer nachzuvollziehen, warum die Sklaverei ausgerechnet in den 1920ern oder 30ern beginnt, diese Effekte zu zeigen – und sich dann im 20. Jahrhundert noch beschleunigt. Wenn bis etwa 1920 schwarze und weiße Familien ähnliche Kohäsionsraten hatten, braucht es eine ziemlich ausgefeilte Erklärung, warum sich das dann ändert. Vielleicht gibt es solche Erklärungen – aber sie liegen nicht direkt auf der Hand.
Zweitens – das hatte ich vorhin schon angedeutet: Wenn man Mitte der 1960er-Jahre sagt, Vaterlosigkeit sei in der schwarzen Community stärker verbreitet als in der weißen, dann scheint es zunächst, als liege ein spezifisch schwarzes Problem vor. Aber wenn man dann die nächsten Jahrzehnte betrachtet, sieht man parallele Entwicklungen – insbesondere in der weißen Arbeiterklasse. Heute haben schottisch-irische Familien ohne Uni-Abschluss eine deutlich höhere Vaterlosigkeitsrate als schwarze Familien in den 60ern, als Moynihan seine Warnung aussprach. Ich kenne die genauen Zahlen nicht, aber so ist mein Verständnis. Und das liegt dann ganz sicher nicht an der Sklaverei. Also muss es mindestens eine übergreifende Ursache geben. Eine offensichtliche Erklärung wäre der Übergang von der Industriegesellschaft zu einer postindustriellen Gesellschaft. Vielleicht hat sowohl die rasche Industrialisierung als auch das anschließende Verschwinden gut bezahlter Jobs eine Umgebung geschaffen, in der es einfacher wurde, sich der familiären Verantwortung zu entziehen – ohne sozialen Druck.
Später wird es dann vielleicht auch einfach schwieriger, Jobs zu finden, die Struktur und Sinn geben – besonders für Männer ohne Uni-Abschluss. Das kann sie dann anfälliger machen für Alkoholismus, Drogenmissbrauch und Ähnliches. Manche Konservative machen das am Sozialstaat fest – sie sagen, es werde zu leicht, ohne den Vater auszukommen, was ungewollt das Abwesendsein fördern könne. Vielleicht ist das eine unbeabsichtigte Nebenwirkung eines eigentlich humanen Systems. Aber du würdest sagen: Es bleibt zum größten Teil ein ungelöstes Rätsel?
Hughes: Ja, würde ich. Aber ich tendiere stark zu Erklärungen, die auf Urbanisierung, Industrialisierung und Deindustrialisierung setzen. Die Argumente zum Sozialstaat könnten auch stimmen – nur: Als es in den 90ern die große Wohlfahrtsreform gab, kehrte sich der Trend nicht um. Es ist also kompliziert. Ich glaube nicht, dass wir es wirklich gut verstehen. Aber ich kann mir vorstellen: Wenn Männer aus der Arbeiterklasse für ein paar Jahrzehnte Zugang zu guten Jobs hatten – Jobs, mit denen sie ihre Familien ernähren konnten – und das dann zu schnell wegbricht, ohne dass sie sich anpassen können, hat das gravierende Folgen. Männer brauchen oft Struktur und Verantwortung. Wenn sie das verlieren und keine Möglichkeit finden, sich neu aufzustellen, dann greifen viele zu Alkohol. Das sieht man überall in Amerika – bei Schwarzen wie bei Weißen. Es ist ein Muster. Und wir verstehen es nicht annähernd so gut, wie wir sollten.
Mounk: Bisher haben wir uns zwei sehr interessante Unterthemen einer größeren Frage angesehen: dem Erbe der Sklaverei. Welche Lehren sollten wir deiner Meinung nach generell daraus ziehen? Ich bin da hin- und hergerissen. Einerseits sehe ich in vielen Bereichen des amerikanischen Lebens, dass die Sklaverei bis heute massive Auswirkungen hat – und angesichts ihrer historischen Bedeutung überrascht das einen auch nicht. Ein scheinbar banales Beispiel, das mir aber deutlich wurde, ist der Umgang amerikanischer Frauen – insbesondere weißer Frauen – mit Haaren. In Europa gilt lockiges Haar oft als etwas Positives, vielleicht ein wenig „exotisch“, jedenfalls etwas, worauf viele Frauen stolz sind. Und ich bin immer wieder erstaunt, wie sehr in den USA lockiges Haar als unprofessionell oder negativ angesehen wird. Ich glaube, das hat viel mit rassifizierten Einstellungen zu tun, mit der Geschichte der Rassenbeziehungen – und letztlich mit der Sklaverei. Und solche Effekte schleichen sich in viele Aspekte des amerikanischen Alltags ein, ohne dass es offensichtlich ist.
Andererseits sehe ich ein echtes Problem mit Begriffen wie „systemischer“ oder „struktureller Rassismus“, wenn sie inflationär und vage verwendet werden – so, dass alle möglichen Phänomene damit erklärt werden, ohne dass wirklich etwas erklärt wird. Gerade weil es plausibel ist, dass die Sklaverei viele Aspekte des heutigen Lebens beeinflusst hat, ist es verführerisch, bei jedem Problem zu sagen: „Das ist struktureller Rassismus.“ Aber wie wir bei Michelle Alexanders Argument zur Masseninhaftierung gesehen haben: Wenn man einfach „struktureller Rassismus“ sagt, dann weiß man weder, was man dagegen tun soll – noch ob es überhaupt die richtige Erklärung ist. Und wenn die Erklärung falsch ist, wird man das eigentliche Problem nicht lösen. Welche Empfehlungen würdest du unseren Hörern oder Lesern geben, wie man über diese Frage nachdenken sollte – über die Bedeutung von strukturellem Rassismus und über die Vorsicht, die man walten lassen sollte, wenn man solche Begriffe verwendet?
Hughes: Meiner Meinung nach sind „struktureller“ und „systemischer“ Rassismus extrem vage Begriffe. In 99 von 100 Fällen, in denen ich sie höre, weiß ich nicht, was die Person damit eigentlich meint. Und das liegt nicht daran, dass ich dumm bin – sondern daran, dass sie es selbst nicht genau wissen.
Mounk: Nur am Rande: Das ist mittlerweile auch zu einer meiner allgemeinen intellektuellen Grundannahmen geworden – und sie unterscheidet sich stark von der Haltung, die ich mit 18 oder 20 hatte. Damals dachte ich: Wenn ich etwas nicht verstehe, liegt das daran, dass ich zu dumm bin. Heute denke ich: In manchen Bereichen mag das stimmen – wenn jemand z. B. bei einem Vortrag oder Podcast über die Algorithmen hinter Künstlicher Intelligenz spricht, dann verstehe ich das vielleicht nicht, weil ich die Mathematik dahinter nicht gelernt habe. Aber in vielen gesellschaftlichen oder philosophischen Fragen, wo ich mich besser auskenne und wo es durchaus möglich ist, sich verständlich auszudrücken, denke ich heute: Wenn ich wirklich nicht verstehe, was jemand sagt, liegt das wahrscheinlich nicht daran, dass ich zu dumm bin – sondern daran, dass die Person entweder absichtlich oder versehentlich unklar spricht. Oder sich selbst verwirrt. Aber nicht, weil ich nicht klug genug bin, es zu verstehen.
Hughes: Ja, geht mir genauso. Um das mal mit Inhalt zu füllen: Wenn ich jemanden frage, was sein Beleg für systemischen Rassismus ist, höre ich am häufigsten Statistiken wie: Schwarze machen 14 % der Bevölkerung aus, aber über 30 % der Gefängnisinsassen. Oder: Sie stellen 14 % der Bevölkerung, aber besitzen nur einen einstelligen Prozentsatz des Vermögens. Und diese Unterschiede sind interessant und diskussionswürdig – aber sie beweisen keinen systemischen Rassismus. Thomas Sowell hat zehn Versionen desselben Buchs geschrieben, in denen er zeigt, dass es völlig normal ist, dass ethnische Gruppen in verschiedenen Kontexten unterschiedliche statistische Ergebnisse erzielen – auch dort, wo Diskriminierung ausgeschlossen werden kann. Solche Unterschiede sind also zu erwarten. Ob sie auf Diskriminierung beruhen, ist eine separate Frage.
Zweitens: Wenn ich frage, was mit „systemischem Rassismus“ gemeint ist, bekomme ich manchmal Studien gezeigt, die implizite Vorurteile belegen – etwa, dass weiße Menschen im Schnitt bestimmte Biases haben, die sich in Laborexperimenten zeigen. Ich halte viele dieser Studien für fragwürdig, aber einige sind sicher valide. Nur: Dann verstehe ich nicht, was an diesem Verhalten das Systemische sein soll. Ich verstehe, was ein rassistisches Vorurteil ist. Wenn du in einen Laden gehst und Chips kaufst, und dann kommt ein schwarzes Kind rein, kauft Chips – und man denkt, es stiehlt, während man dir einfach glaubt – dann ist das Rassismus. Vielleicht kein ideologischer Rassismus, aber ein klar rassistisches Verhalten. Wenn du mit „systemischem Rassismus“ meinst: genau dieses Verhalten – multipliziert über die ganze Gesellschaft –, dann reden wir nicht über Systeme, sondern über Menschen und ihre Einstellungen. Die Leute, die am lautesten über „systemischen Rassismus“ reden, sind oft sehr unklar, was sie eigentlich meinen. Und das Ganze hat auch etwas von akademischem „Wegwinken“, weil das akademische Umfeld in den Sozialwissenschaften so stark nach links tendiert, dass es möglich ist, Jahrzehnte lang den Begriff „struktureller Rassismus“ zu benutzen, ohne dass auch nur ein einziger Student oder Studentin oder Professor oder Professorin kritisch nachfragt, was man damit meint. So kann man sehr lange über ein Konzept reden, ohne je gemerkt zu haben, dass man es gar nicht definieren kann.
Ibram X. Kendi schreibt in seinem Buch How to Be an Antiracist, dass er ganz bewusst auf die Begriffe „struktureller“ oder „systemischer Rassismus“ verzichtet hat – weil er gemerkt hat, dass er sie normalen Menschen nicht erklären kann. Das fand ich sehr aufschlussreich. Denn das ist ja keine Raketenwissenschaft – es geht nicht um Feinheiten der KI. Wenn du einem durchschnittlichen Menschen nicht erklären kannst, was „systemischer Rassismus“ bedeutet, dann ist es vielleicht einfach ein schlechter Begriff. Vielleicht beschreibt er nichts, was nicht schon durch einfachere, klarere Begriffe benannt werden könnte.
Mounk: Wie denkst du, sollten Menschen, die Diskriminierung erleben, über solche Situationen nachdenken – gerade wenn unklar ist, ob es wirklich Diskriminierung war oder nicht? Ich habe mir diese Frage manchmal selbst gestellt, als ich in Deutschland aufgewachsen bin – als Jude. Es gibt dort durchaus antisemitische Einstellungen, aber auch ein sehr starkes gesellschaftliches Tabu, diese offen zu äußern. Der Unterschied ist natürlich: Wenn ich einen Laden betrete, wissen die Leute in der Regel gar nicht, dass ich Jude bin. Aber ich habe neulich darüber nachgedacht – aus einem ganz banalen Anlass: Ich war mit einer Freundin in einem Postamt in einem kleinen Ort in Jackson, Wyoming – einer sehr weißen Gegend. Wir sind beide weiß. Und die Frau am Schalter war einfach extrem unhöflich. Es wirkte regelrecht so, als würde sie sich Mühe geben, unfreundlich und unhilfsbereit zu sein. Und weil wir weiß waren und sie auch, dachten wir einfach: Okay, die ist halt schlecht gelaunt, oder unfreundlich, oder einfach eine unangenehme Person. Aber Rassismus war es offensichtlich nicht.
Und ich dachte mir: Wenn ich schwarz gewesen wäre, hätte ich vielleicht sofort gedacht – das muss rassistisch motiviert gewesen sein. Und es wäre in dieser Situation auch nicht völlig unvernünftig, das zu glauben, weil ihr Verhalten einfach so unnötig feindselig war.
Ich will damit natürlich nicht sagen, dass man – ob als Jude in Deutschland oder als Angehöriger einer Minderheit anderswo – nie auf Diskriminierung schließen sollte. Das wäre genauso naiv. In diesem Fall war die Frau einfach eine unangenehme Mitarbeiterin. Aber in anderen Fällen könnte es eben wirklich Diskriminierung sein. Was würdest du anderen Menschen raten – gerade solchen, die mit solchen Fragen im Alltag zu tun haben? Wie denkst du über diese Dynamik, jenseits der offensichtlichen Tatsache, dass es eine der Ungerechtigkeiten ist, mit denen Menschen in einer Gesellschaft leben, in der gewisse Vorurteile weiterexistieren? Dass ich einfach rausgehen und denken kann: „Was für eine unangenehme Frau“ – während eine andere Person sich zusätzlich noch fragen muss, ob sie gerade gezielt so behandelt wurde. Und ob das nicht doch etwas tiefer ging als bloße Unfreundlichkeit.
Hughes: Das ist eine schwierige Frage. Ich denke: Um im Leben erfolgreich zu sein, braucht man eine „halb volles Glas“-Haltung. Es hilft einfach, mit so einer Einstellung durchs Leben zu gehen. Wenn dir jemand blöd kommt, bringt es dir gar nichts, auch noch davon auszugehen, dass er – zusätzlich dazu, dass er sich wie ein Idiot verhält – auch noch ein Rassist ist. Denn dann erschaffst du dir ein Weltbild, in dem die Gesellschaft grundsätzlich Menschen wie dich ablehnt. Und das führt – also, man könnte darauf verschieden reagieren: Man könnte sagen, „Jetzt erst recht – ich zeig’s denen, auch wenn sie Leute mit meiner Hautfarbe nicht mögen.“ Aber die menschlichere, typischere Reaktion ist eher: Man lehnt das System ab, von dem man glaubt, dass es einen selbst ablehnt.
Was mich daran stört: Im Privaten stellen sich Schwarze und andere Minderheiten gegenseitig selten infrage, wenn es um solche Erlebnisse geht. Es gibt viel Bestätigung – so nach dem Motto: „Ja, diese rassistische USPS-Tante hat mich richtig mies behandelt.“ Aber niemand sagt mal: „Woher weißt du, dass das rassistisch war? Vielleicht war sie einfach nur eine frustrierte, unglückliche, mies gelaunte USPS-Mitarbeiterin – wie so viele von denen?“
Es gab mal eine interessante Folge von Hidden Brain dazu. Die kamen zu dem Schluss, dass es einem tatsächlich hilft, bei solchen Erlebnissen eher das „halb volle Glas“ zu sehen – weil man dann ein stärkeres Gefühl von Kontrolle und Handlungsspielraum hat. Also dieses Gefühl: „Ich kann in dieser Welt etwas erreichen, wenn ich es weiter versuche, wenn ich mich zeige, wenn ich mich in neue Situationen begebe.“ Das ist extrem gesund – wenn man reicher werden will, wenn man einen besseren Job will. Man braucht dieses Gefühl: „Ich krieg weitere Chancen im Spiel des Lebens – und irgendwann führt das irgendwohin.“ Je mehr man glaubt, dass Leute einen wegen der eigenen Hautfarbe hassen, desto weniger ist man bereit, das zu tun. Man wird verbittert, pessimistisch.
Also mein Ansatz wäre: Immer wenn jemand unfreundlich zu mir ist – außer es gibt so einen ganz klaren Vergleichsfall, wo zum Beispiel der weiße Typ vor mir total freundlich behandelt wurde, und ich dann mies – dann denke ich: Okay, die Person hat einfach einen schlechten Tag. Und dann gehe ich weiter.
Mounk: Es gibt natürlich einen offensichtlichen Preis dafür, das Ausmaß von Rassismus in solchen Situationen zu unterschätzen. Aber du hast in deinem Buch – und auch beim letzten Mal, als du im Podcast warst – sehr überzeugend dargelegt, dass es ebenso einen echten Preis dafür gibt, das Ausmaß von Rassismus zu überschätzen. Du hast, glaube ich, von deinem Großvater erzählt, der lange Zeit gar nicht erst versucht hat, eine Führungsposition zu erreichen, weil ihm jemand gesagt hatte, dass die Angestellten in dieser Firma damals keinen schwarzen Chef akzeptieren würden. Und als er dann doch dazu ermutigt wurde, sich zu bewerben, tat er es – stellte fest, dass das gar nicht stimmte – und hatte anschließend eine sehr erfolgreiche Karriere als Manager.
Damit sind wir bei dem Gespräch, das wir beim letzten Mal geführt haben – und bei deinem Buch The End of Race Politics. Es startete gut. Du hast eine große Fangemeinde, und die ersten Verkaufszahlen waren ordentlich. Und dann – wenn ich richtig liege – ging es nach deinem Auftritt bei The View, wo dich einige der Gastgeber ziemlich grob angegangen sind, nochmal richtig durch die Decke. Glückwunsch dazu – es ist ein großartiges Buch, und du hast diesen Erfolg absolut verdient. Wie denkst du heute über das zentrale Argument? Als du das Buch geschrieben und veröffentlicht hast, schien es so, als gäbe es zwar viel Zustimmung zur Idee einer farbblinden Gesellschaft – also einer Gesellschaft, die nicht nach Hautfarbe unterscheidet –, aber amerikanische Institutionen funktionierten überhaupt nicht so. Und es schien auch überhaupt nicht dem Ideal zu entsprechen, das die weitverbreiteten kulturellen Meinungen des Landes verfolgten.
Jetzt sehen wir eine viel energischere und koordiniertere Kampagne der Trump-Regierung, jegliche Form von Affirmative Action oder sogenannter DEI-Programme abzuschaffen – deutlich stärker als man es damals vielleicht erwartet hätte. Und zumindest nach außen hin behaupten einige Unternehmen und Universitäten, dass sie da mitziehen. Firmen wie Meta – also das Unternehmen hinter Facebook – haben bestimmte Diversity-Maßnahmen wieder aufgegeben. Universitäten erklären, sie würden sich an das Urteil des Supreme Court zur Affirmative Action halten – auch wenn ein Blick auf die Zulassungszahlen diese Behauptung nicht gerade eindeutig stützt. Denkst du, dass wir uns auf eine farbblinde Gesellschaft zubewegen – oder wird das Thema einfach immer tieferer gesellschaftlicher Spaltung unterworfen, sodass es nie zu einem gemeinsamen neuen Gleichgewicht kommen wird?
Hughes: Ich glaube nicht, dass es sich weiter polarisiert. Meinem Eindruck nach sind die Themen, die die amerikanische Gesellschaft aktuell spalten, nicht rassenbezogen. Das ist natürlich nur, was ich aus den Nachrichten, von Twitter oder aus Gesprächen mit Freunden mitbekomme – aber ich sehe deutlich weniger rassenbezogene Spaltung als noch vor vier oder acht Jahren.
Mounk: Das stimmt auf jeden Fall, wenn man sich die Wählerschaft anschaut. 2016 hat die Hautfarbe eines Wählers viel mehr darüber ausgesagt, wen er wählt, als 2024.
Hughes: Genau. Für mich ist das ein deutliches Zeichen dafür, dass Rasse weniger polarisiert – was großartig ist. Und was ich auch spannend finde: Eine Regierung, die tatsächlich versucht, farbblinde Politik umzusetzen – genau so, wie ich es in meinem Buch vorschlage – hat nicht zu massiven Gegenreaktionen geführt. Auch das Urteil des Supreme Court zur Abschaffung von Affirmative Action – wir haben keine flächendeckenden Campus-Proteste erlebt, keinen kollektiven Zusammenbruch. Im Gegenteil: Es scheint, als hätten viel mehr Menschen stillschweigend gegen Affirmative Action in der Studienzulassung empfunden, als öffentlich zugegeben wurde. Und die lautstarken Verteidiger waren deutlich weniger, als viele dachten. Man wusste ja immer schon, dass diese Politik letztlich nur einer sehr kleinen Bevölkerungsgruppe zugutekommt – Leuten wie mir: elitär und schwarz. Das betrifft vielleicht 1 % der schwarzen 18-Jährigen pro Jahrgang. Aber dass der Supreme Court und die Trump-Regierung all das ohne große Proteste durchziehen konnten, und dass die Studierenden sich stattdessen viel mehr für Gaza interessieren – oder für das, was sie über Gaza wahrnehmen – das entlarvt, wie viel von dem linken Aktivismus in Wahrheit ein Verteilungskampf unter Eliten war.
Mounk: Das ist ein interessanter Punkt. Ich würde deine vorsichtige Zuversicht gern teilen – aber ich bin mir da nicht so sicher. Eines der Dinge, die wir kürzlich gesehen haben, war der Hack und die Veröffentlichung von Zulassungsdaten an der New York University. Für ein paar Stunden waren sie direkt auf der NYU-Website einsehbar. Man sah dort die durchschnittlichen SAT-Scores verschiedener Bewerberkategorien. Und das schien zu bestätigen, was viele ohnehin seit Jahren vermuten: Dass viele Elite-Unis weiterhin Affirmative Action betreiben – trotz des Verbots. Dass also viele linksliberale Institutionen, während sie völlig zu Recht entsetzt sind über Trumps Aussagen, er könnte irgendwann die Urteile von Bundesgerichten ignorieren, im Grunde selbst dem Supreme Court sagen: „Ihr habt euer Urteil gesprochen – aber mal sehen, ob ihr es auch durchsetzen könnt.“ Sie machen einfach weiter mit Praktiken, die der Supreme Court – ob zu Recht oder zu Unrecht – für illegal erklärt hat.
Ganz am Rande: Etwas Ähnliches sahen wir auch bei der Präsidentin von Columbia, Katrina Armstrong. Sie sagte bei einem Treffen mit 70 oder 80 Personen, dass die Zusagen, die sie der Trump-Regierung gemacht hatte – ob man diese Zusagen nun für notwendig hält oder für einen Kniefall – im Grunde nur pro forma waren. Sie habe nie wirklich vorgehabt, sie umzusetzen. Was eine bemerkenswert dumme Aussage ist – und sie hat ihren Posten verloren. Es war die zweite Columbia-Präsidentin, die innerhalb von zwölf Monaten zurücktreten musste.
Aber die eigentliche Frage ist: Wie weit sind diese Institutionen wirklich bereit, solche Maßnahmen aufzugeben, selbst nachdem sie für illegal erklärt wurden? Ich fand es sehr bemerkenswert, dass Tim Walz – immerhin Vizepräsidentschaftskandidat und möglicher Anwärter für 2028 – kürzlich sagte: Das Problem der Demokraten sei, dass sie nicht genug für Affirmative Action, Wokeness und DEI eingestanden hätten. Ich fürchte deshalb, dass wir eigentlich ein neues Gleichgewicht brauchen – und stattdessen nur eine weitere Pendelbewegung erleben. Die Trump-Regierung nutzt gerade ihre Exekutivmacht, um den Universitäten ihren Willen aufzuzwingen. In manchen Fällen finde ich das nachvollziehbar – etwa bei verpflichtenden Diversitätsstatements für Professoren und Professorinnen. Aber es gefährdet auch die institutionelle Unabhängigkeit – und das macht mir Sorgen. Und egal, wie man zu dieser Gemengelage steht: Die Frage ist doch – wenn 2028 oder 2032 jemand wie Tim Walz oder Kamala Harris wieder an die Macht kommt – werden sie dann nicht genau dieselbe Macht nutzen, um noch schärfere Formen von Affirmative Action wieder einzuführen? Oder glaubst du wirklich, dass da inzwischen die Luft raus ist – und die Demokraten begriffen haben, dass das ein verlorener Kampf ist?
Hughes: Das wird sich zeigen. Ich glaube, die Demokratische Partei steckt gerade in einer Krise. Ich hoffe, sie erkennt diesen Moment auch als Krise – aber zugleich sehe ich darin eine Chance: Jede Krise kann auch ein Wendepunkt sein. Ob es jetzt Ezra Klein mit seiner „Abundance Agenda“ ist oder Gavin Newsom, der plötzlich die Mitte umarmt und sich mit Leuten wie Charlie Kirk oder Steve Bannon zeigt – man sieht, wie führende Figuren der Partei sehr neue, sehr riskante Wege gehen, weil sie spüren, wie stark sie 2024 gescheitert sind. Du hast völlig recht: Der Widerstand gegen Affirmative Action ist tief – und das wird ein harter, hässlicher Konflikt zwischen der Trump-Regierung und den Universitäten. Es wird Prozesse geben, das wird nicht schön. Aber was mich überrascht hat: Schon bevor man wusste, wie heftig die Gegenwehr ausfallen würde – also direkt nach dem Urteil des Supreme Court – blieb der große Aufschrei aus. Vielleicht lag das daran, dass viele damit rechneten, dass es ohnehin nicht vollständig umgesetzt wird. Aber trotzdem: Es zeigt, wie groß der Unterschied zwischen der öffentlichen Rhetorik und den privaten Haltungen zu diesem Thema ist.
Mounk: Das ist auf jeden Fall ein berechtigter Punkt. Wie denkst du allgemein über das, was die Trump-Regierung aktuell tut – und darüber, inwieweit sie dabei reale kulturelle Exzesse korrigiert, ohne selbst neue aufzubauen? Ich persönlich bin in den letzten Monaten deutlich besorgter geworden – aus mehreren Gründen. Nehmen wir zum Beispiel das Thema Abschiebung von Studierenden, die sich entweder mit klassischen Studentenvisa wie dem F-1 in den USA befinden oder sogar als permanente Einwohner mit Green Card. Ich will die juristische Debatte mal beiseitelassen – dazu laufen ja mehrere Verfahren. Es könnte durchaus sein, dass es legal zulässig ist, dass der Außenminister Studierenden zur nationalen Sicherheitsbedrohung erklärt und damit das Visum oder den Aufenthaltsstatus entziehen und abschieben kann. Ich wäre nicht überrascht, wenn Gerichte das am Ende für rechtens erklären würden.
Aber moralisch gesehen scheint es mir problematisch: Wenn wir an freie Meinungsäußerung und akademische Freiheit glauben – und daran, dass wir die talentiertesten Menschen der Welt anziehen wollen, um hier zu studieren (was ja letztlich zur Gründung einiger der wertvollsten Unternehmen der Welt geführt hat) –, dann müssen wir ihnen auch zusichern, dass sie frei über das sprechen können, was ihnen wichtig ist. Ich werde mit vielem davon nicht einverstanden sein – und bei einigen der Menschen, die derzeit abgeschoben werden, trifft das sicher zu. Und es mag sein, dass einige tatsächlich Straftaten begangen haben – etwa, wenn sie Universitätsgebäude besetzt oder andere Gesetzesverstöße begangen haben.
Aber ich mache mir Sorgen, was passiert, wenn man solche Menschen abschiebt, ohne den konkreten Fall vorzubringen, ohne sie vor ein ordentliches Gericht zu stellen, ohne zu prüfen, ob sie diese angeblichen Straftaten tatsächlich begangen haben. Das hat zwei schwerwiegende Folgen: Erstens besteht die reale Möglichkeit, dass Unrecht geschieht – dass diese Menschen gar kein Verbrechen begangen haben und dennoch ihre Aufenthaltsgenehmigung verlieren. Und zweitens untergräbt es unser Vertrauen darin, dass Recht tatsächlich gesprochen wird. Denn dann wirkt es so, als sei hier gar kein Verbrechen begangen worden – und andere, die ebenfalls kein Verbrechen begangen haben, werden sich aus Angst davor, abgeschoben zu werden, nicht mehr trauen, ihre Meinung offen zu sagen.
Ich finde es wirklich deprimierend, wie wenig Raum für echte Meinungsfreiheit es in den letzten Jahren auf vielen Campussen gab. Ich halte es für vollkommen legitim, wenn eine Regierung gegen echte Zensur und Repression auf dem Campus vorgeht. Aber meine Sorge ist: Stattdessen bekommen wir jetzt einfach eine andere Form von Zensur – nur diesmal gestützt auf die Macht des Präsidentenamts, des Heimatschutzministeriums und anderer staatlicher Institutionen. Was denkst du darüber?
Hughes: Ich sehe das ganz ähnlich wie du. Es ist ein klassischer Fall: Die Repression von links hat große kulturelle Wirkungskraft – sie braucht kaum offizielle Politik, weil sie sich über gesellschaftlichen Druck selbst durchsetzt. Die Repression von rechts ist dagegen gesetzlich, übergriffig, politisch – aber meist selektiv. Was den Fall Mahmoud Khalil betrifft: Nach allem, was ich weiß, wurde er bis heute nicht wegen eines Verbrechens angeklagt. Es wurde nichts gefunden, das plausibel als Straftat gelten könnte. Ich teile deine Einschätzung: Es mag rechtlich zulässig sein, ihn abzuschieben. Aber wenn das rechtlich möglich ist – dann ist es auch möglich, eine Vielzahl von Green-Card-Inhaber und Inhaberinnen abzuschieben, wegen angeblichem „Befürworten“ oder „Verherrlichen“ von Terrorismus. Und alle diese Begriffe sind extrem weit und schwammig definiert.
Noch schlimmer: Marco Rubio mag in seiner Rolle formal weitreichende Vollmachten haben, um Menschen abzuschieben, die als „nationale Sicherheitsbedrohung“ gelten. Aber für mich ist völlig klar: Diese Bezeichnung besteht den Lachtest nicht. Wenn er ein Sicherheitsrisiko ist, dann ist jeder studentische Aktivist und Aktivistin in den USA ein Sicherheitsrisiko. Dann ist der Begriff „nationale Bedrohung“ nichts weiter als eine hohle Orwell’sche Phrase – ein Vorwand, um politische Gegner der Regierung loszuwerden.
Wie sieht das Ganze dann aus, wenn in ein paar Jahren ein Demokrat oder eine Demokratin an der Macht ist – und das Ganze in die andere Richtung geht? Ich glaube nicht, dass irgendjemand, der diese Abschiebung heute verteidigt, das auch tun würde, wenn es sich um eine Aktivistin für eine Sache handeln würde, mit der er oder sie sympathisiert. Meine Haltung ist klar: Wenn du ein Verbrechen begehst – raus mit dir. Ich habe kein Mitleid. Du bist hier zu Gast – und wenn du Gesetze brichst, solltest du abgeschoben werden. Aber wenn du kein Verbrechen begangen hast, dann sollte niemand wegen seiner Überzeugungen abgeschoben werden – so widerwärtig sie auch sein mögen.
Dieses Argument, man müsse „Verbindungen zu Hamas“ nachweisen, ist für mich ein klares Zeichen, wie schwach die rechte Argumentation in diesem Fall ist. Dass sie sich auf solch schwammige Begriffe stützen müssen – dass sie nebulöse Verknüpfungen konstruieren –, zeigt doch: Da ist nichts Belastbares. Nach allem, was ich weiß, war Khalil einfach Teil einer pro-palästinensischen Campusgruppe.
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Dieses Transkript wurde mit Hilfe von KI übersetzt und von Niya Krasteva redigiert.